Psychotherapeuten-Ausbildung

Psychische Erkrankungen – ein Fall für alle Ärzte, nicht nur für Psychogeneralisten!

Auf dem Ärztetag in Erfurt steht auch die Diskussion über die Reform der Psychotherapeuten-Ausbildung auf der Agenda. Verbände raten für eine gemeinsame Patientenversorgung zur Zusammenarbeit verschiedener Berufsgruppen und Sektoren.

Angela MisslbeckVon Angela Misslbeck Veröffentlicht:
Eine Psychotherapeutin im Gespräch mit einer jungen Frau.

Eine Psychotherapeutin im Gespräch mit einer jungen Frau.

© mangostock / Fotolia

Keine 20 Jahre sind vergangen, seit Ärzte und Therapeuten eine Entstigmatisierung von psychischen Erkrankungen und mehr Akzeptanz für die Psychotherapie gefordert haben. Inzwischen ist Psychotherapie so selbstverständlich und allgegenwärtig, dass darüber andere Methoden und Bereiche der Versorgung psychisch und psychosomatisch Kranker in Vergessenheit zu geraten drohen.

Der 121. Deutsche Ärztetag in Erfurt will deshalb das gesamte Spektrum der Versorgung darstellen. Er trifft damit den Nerv der Zeit. Denn der Koalitionsvertrag der Großen Koalition erkennt erstmals ausdrücklich politisch an, dass psychische Erkrankungen Volkskrankheiten sind.

"Psychische Erkrankungen gehen alle Ärzte an, weil sie so oft auftreten", sagt der Münchner Allgemeinmediziner Professor Jochen Gensichen. Jeder dritte Deutsche ist im Lauf seines Erwachsenenlebens von einer psychischen Erkrankung betroffen. In der Hausarztpraxis seien vor allem Depressionen eine häufige Komorbidität, auf die Hausärzte unbedingt achten sollten, rät der Leiter des Instituts für Allgemeinmedizin der Münchner Uniklinik. "Sie erschweren und verkomplizieren andere Erkrankungen, sind bei uns aber in guten Händen", so Gensichen. Essenziell für eine gute Versorgung sind aus seiner Sicht Ruhe bei der Diagnostik und ein zeitnaher Therapiebeginn in einem gestuften Versorgungskonzept. "Der Hausarzt beginnt gut, zum Beispiel mit psychosomatischer Grundversorgung und überweist gegebenenfalls zum Spezialisten", sagt Gensichen.

Irritationen über Regierungspläne

"Wir wollen das gesamte Versorgungsspektrum darlegen", kündigte der Präsident der Bundesärztekammer, Professor Frank-Ulrich Montgomery, vor dem Ärztetag an. "Dabei wird es nicht zu verhindern sein, dass wir auch die Reform der Psychotherapeuten-Ausbildung diskutieren", so der BÄK-Chef. Die Pläne der Bundesregierung, einen klinischen Psychotherapeuten zu schaffen, der unter anderem auch mit einer Verordnungsbefugnis ausgestattet werden soll, rufen Irritationen in weiten Teilen der Ärzteschaft hervor. "Wir werden mit Sicherheit die Vergabe von Arzneimitteln durch psychologische Psychotherapeuten ablehnen", so Montgomery auf Nachfrage. Psychosomatiker warnen davor, dass die Ausbildungsreform dazu führen kann, dass die psychische Versorgung abgetrennt von der somatischen Versorgung betrachtet wird. "Die enge Zusammenarbeit und spezielle Expertise von Ärzten und ärztlichen Psychotherapeuten ist wichtig. Für die Patienten kommt es auf die individuelle Gewichtung biopsychosozialer Faktoren an", sagt Professor Stephan Zipfel, Ärztlicher Direktor der Tübinger Uniklinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie. Nötig sei nicht nur, Wartezeiten auf Richtlinien- Psychotherapie zu verkürzen, sondern insbesondere den Austausch zwischen den Sektoren und Berufsgruppen zu fördern.

Stepped Care statt nur Richtlinien-Psychotherapie

Auch die Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN) warnt davor, einen "Psychogeneralisten" mit Schnellausbildung neben die ausdifferenzierte Versorgungslandschaft zu stellen. "Wir setzen auf eine gemeinsame Patientenversorgung, bei der verschiedene Berufsgruppen und Sektoren zusammenarbeiten", sagte DGPPN-Präsident Professor Arno Deister der "Ärzte Zeitung". Er appelliert an die Politik, die Debatte um die Versorgung psychisch Kranker nicht zu sehr auf die Richtlinien-Psychotherapie zu fokussieren: "Psychotherapie ist nur eines von vielen wichtigen Verfahren", so Deister. Er wirbt für eine patientenorientierte und bedarfsgerechte Versorgung im Sinne von Stepped Care. "Jeder Patient muss das bekommen, was er braucht." Dabei spielen neben klinischen, tagesklinischen und ambulanten medizinischen Behandlungen, Reha, Wiedereingliederungshilfen und gemeindepsychiatrischen Krisenauffangdienste zunehmend auch Online-Therapien und stationsäquivalente Leistungen eine Rolle.

Vor allem Letztere öffnen aus Sicht der Past-Präsidentin der DGPPN, Dr. Iris Hauth, ein Türchen für sektorenübergreifende Versorgungsmodelle.Und das sei dringend notwendig. "Die entscheidende Aufgabe für die Zukunft ist es, die vorhandenen Angebote in eine strukturierte Versorgung zu bringen", fordert Hauth. Sie verweist auf einzelne Leuchtturmprojekte wie das gut evaluierte Projekt zur integrierten Versorgung von Patienten mit Schizophrenie der Hamburger Universitätsklinik oder das IV-Projekt zur ambulanten Komplexleistung in Berlin. Solche Modelle könnten aber nur dann Schule machen, wenn die Politik die Anreizsysteme umgestalte. Dabei seien auf Seite der Kostenträger nicht nur die Krankenkassen, sondern auch die der Reha- und Eingliederungshilfe gefragt, auf Seiten der Leistungserbringer Ärzte, psychologische Psychotherapeuten und alle weiteren ambulanten Anbieter.

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