Interview

Digital affin und kritisch – kein Gegensatz!

Es ist völlig legitim, wenn Ärzte kritisch hinterfragen, wie sich durch die Digitalisierung Abläufe im Klinik- und Praxisalltag ändern: Der Präsident der Ärztekammer Sachsen, Erik Bodendieck, im Gespräch mit der „Ärzte Zeitung“ über Digitales – und andere Fragen der Versorgung.

Wolfgang van den BerghVon Wolfgang van den Bergh Veröffentlicht:
Digitalisierung: Das nächste große Ding in der Medizin?

Digitalisierung: Das nächste große Ding in der Medizin?

© vegefox.com / stock.adobe.com

Ärzte Zeitung: Herr Bodendieck, der Digitalisierungsreport 2019 von DAK und Ärzte Zeitung zeigt, dass es Ärzten beim Thema E-Health vor allem um den Nutzen geht. Deckt sich das mit Ihren Erfahrungen als neuer Verantwortlicher der Bundesärztekammer für den Bereich Telematik?

Erik Bodendieck: Das ist so, wie bei vielen Dingen im Leben. Anfangs gibt es Skepsis, dann werden Fragen gestellt: Wozu brauche ich das? Verlängert das meine Arbeitszeit, etwa durch Eintragungen ins Praxis- oder Klinikverwaltungssystem? Ist das neue System sicher, insbesondere mit Blick auf hochsensible Patientendaten? Es ist richtig, dass solche Fragen gestellt werden.

Das ist aber nur eine Seite der Medaille. Die Einführung der elektronischen Medien lässt uns alle enger zusammenrücken – mit allen positiven wie negativen Aspekten. Ich bin mir sicher, dass die Ärzteschaft den Nutzen und den Wert digitaler Medien erkannt hat. Klar ist auch, was sie nicht wollen: Instrumente, die sinnlos sind, in der Behandlung nichts nützen und nur Zeit kosten.

Woran denken Sie dabei konkret?

Ich denke zum Beispiel an das Versichertenstammdaten-Management. Das ist ein Tool, das nicht den Ärzten nützt, sondern den Krankenkassen, weil es ihnen Verwaltungsaufgaben abnimmt. Ärzte wollen Tools, die ihnen die Dinge erleichtern. Und dazu gehört zum Beispiel die Wiedereinbestellung des Patienten zu Kontrolluntersuchungen.

Was sind die größten Probleme?

Ganz entscheidend ist die Kompatibilität, das Kommunizieren unterschiedlicher Systeme. Die Industrie ist hier sehr zögerlich, vor allem was die Bereitstellung von Schnittstellen oder auch die Abstimmung eines gemeinsamen Thesaurus‘ angeht. Nehmen Sie das Beispiel elektronische Patientenakte: Wenn ich in einer Einkaufstüte Befunde sammele, hat das auch seinen Reiz, wenn ich bereit bin, darin stundenlang zu suchen.

Ich kann’s aber auch intelligent machen. Da sind wir in der gematik auf einem guten Weg, etwa die Spezifikation für eine elektronische Gesundheitsakte so darzustellen, das Ärzte damit etwas anfangen können. Denken Sie an den Medikationsplan, an Interaktionen oder allergische Reaktionen.

Trotzdem hat man den Eindruck, in Deutschland läuft man dem Fortschritt in der Telemedizin hinterher. Ist die Kritik berechtigt?

Ja, ich glaube auch, dass manches schneller gehen sollte. Das hängt damit zusammen, wie wir in der Selbstverwaltung aufgestellt sind. Dabei geht’s um Interessen, die nach meinem Eindruck manchmal über dem Ziel stehen. Genau daran müssen wir arbeiten. Ich sage das als vehementer Verfechter der Selbstverwaltung.

Die KBV will die Verantwortlichkeiten neu regeln. Teilen Sie die Auffassung der KBV, dass die Ärzteschaft die Hoheit bei den medizinischen Inhalten haben muss? Und: Kann das alleine die KBV übernehmen?

Ich unterstütze die Position der KBV. Die Ärzteschaft muss die Hoheit über die medizinischen Inhalte haben. Das gilt auch für die Formulierung, was wir uns unter einer alltagstauglichen elektronischen Gesundheitsakte vorstellen. Und da braucht es eine Zusammenarbeit aller ärztlichen Akteure, also auch der Ärztekammern.

Seit Jahren streiten Sie dafür, das ausschließliche Fernbehandlungsverbot zu lockern. Der Ärztetag hat das 2018 beschlossen. Viele Kammern haben den Beschluss umgesetzt. Gibt es erste konkrete Erfahrungen?

Ich bin mir nicht sicher, ob wir jemals zu diesem Thema valide Zahlen bekommen werden. Aber es gibt schon einzelne gute Projekte. Es geht ja nicht nur um die Lockerung des Fernbehandlungsverbots. Es geht im Prinzip auch darum, an welchen Stellen im System Patienten an Informationen über ihren Gesundheitszustand herankommen. Patienten sollten zudem wissen, wem sie im System, welche persönlichen Daten anvertrauen.

Ich denke, dass mit der zentralen Rufnummer 116117 ein wichtiger Schritt in Sachen Patientensteuerung gemacht wird. Bei allen Angeboten, die derzeit auch von Kassen diskutiert werden, sollte klar sein, dass Patientensteuerung eine ureigene ärztliche Aufgabe ist. Und der Patient hat ein Recht auf verlässliche Informationen.

In der jüngsten von der KBV in Auftrag gegebenen Studie zu den Berufsvorstellungen von Medizinstudenten spielt neben der Digitalisierung der Teamgedanke eine große Rolle. Werben Kammern und KVen zu wenig für die vielfältigen Möglichkeiten?

Vorweg gesagt: Die junge Generation hat mit dem Thema Digitalisierung wenig Berührungsängste, weil sie quasi damit aufwächst. Sie erkennt die Chancen, dass die digitale Welt ihre Arbeit erleichtert. Die ältere Generation hat ihre eigene und damit eine andere Sozialisation. Wichtig ist, dass wir über die Generationen hinaus im Gespräch bleiben.

Zum Thema Teamarbeit. Der Gesetzgeber hat dazu mit dem Vertragsarztrechtsänderungsgesetz neue Möglichkeiten geschaffen. Die Öffnungen, die damit entstanden sind, werden genutzt. Ich bin der festen Überzeugung, dass auch die Einzelpraxis ihren Platz im System hat, aber der große Trend, den wir seit Jahren beobachten, geht in Richtung gemeinschaftliches Arbeiten. Junge Kollegen wollen den Austausch, wollen die schnelle Abstimmung, und das ist ausdrücklich zu begrüßen.

Was heißt das konkret zum Beispiel für die ländliche Versorgung?

Hier wird sich sicherlich einiges ändern. Das müssen wir modellhaft erproben. Das kann eine Satellitenpraxis sein, wo an jedem Wochentag ein anderer Facharzt Dienst hat oder es kann eine große Praxis in der Kreisstadt sein, die die ländliche Versorgung mit übernimmt. Interessant ist dabei, und das haben die Kollegen in der Studie gesagt, unter Einbindung anderer Gesundheitsfachberufe und der Nutzung digitaler Angebote.

In diesen Kontext passt auch das Dauerbrennerthema Vernetzung ambulant /stationär. Warum kriegen wir das Problem nicht gelöst?

Da gibt’s viele Gründe. Das beginnt bei der Vergütung. Hier achten beide Seiten sehr genau darauf, dass der eine dem anderen nicht in den Honorartopf gucken kann, geschweige denn dem anderen daraus eine Kelle abgibt. Sektorengrenzen werden auch durch das Fortschreiben starrer Vergütungssysteme manifestiert. Hinzu kommen Gruppen, die aus politischen oder ideologischen Gründen gegen eine Verzahnung sind.

Dennoch: Der Prozess der Verzahnung wird nicht aufzuhalten sein, einerseits wegen der zunehmenden Ambulantisierung der Medizin, andererseits wegen der defizitären Finanzlage vieler Kliniken. Die Frage ist: Wie kann ich über Projekte Versorgung sicherstellen?

Haben Sie darauf eine Antwort?

Entscheidend wird sein, wie sehr wir die im SGB V geschaffene Möglichkeit nutzen, im Gemeinsamen Landesgremium sektorenübergreifende Modelle zu schaffen (Paragraf 90a, Anm. d. Red.). Es gibt von den Kommunen zum Teil Vorbehalte, wenn ein Gremium sagt, was für ein Modell zu welcher Region passt.

Diese Vorbehalte müssen wir abbauen und die Projekte gemeinsam mit den Partnern vor Ort „von unten“ entwickeln. Ich denke, dass es Sinn macht, in Modellregionen medizinische Versorgung von morgen zu organisieren. Damit greifen wir eine Strategie auf, auf die wir uns in der Landesärztekammer 2018 verständigt haben.

Was sind das für Projekte und was sollen sie leisten?

Entscheidend ist, wie wir mit den knappen Ressourcen besser umgehen. Das versuchen wir, in Sachsen in den Regionen Marienberg und Weißwasser umzusetzen. Dort sind sieben Projektgruppen eingesetzt worden, die sich unter anderem mit Themen wie Weiterbildungsverbünden, regionales Gesundheitszentrum oder Patientenmobilität beschäftigen.

Wir gehen davon aus, im Jahr 2021 erste Ergebnisse präsentieren zu können. Übrigens: Wir sind auch offen für alle Vorschläge, die aus den Regionen kommen. Dazu entwickeln wir mit den Kassen, der KV und der Krankenhausgesellschaft ein Unterstützungs-Tool.

Wie sieht’s mit dem medizinischen Nachwuchs im Freistaat aus: Wird hier angesichts der demografischen Entwicklung genug getan?

Wir würden gerne mehr tun, junge Menschen für den Mediziner-Beruf zu begeistern. Es gibt das Netzwerk „Ärzte für Sachsen“, das mittlerweile zehn Jahre erfolgreich arbeitet. Erfreulicherweise hat es eine signifikante Steigerung junger Ärzte verzeichnen können. Auf der anderen Seite gibt es eine Begrenzung der Studienkapazitäten.

Ich frage Sie: Warum sollen wir mehr Menschen für die Medizin begeistern, wenn wir heute schon fünf Bewerber auf einen Studienplatz haben? Man muss es so deutlich sagen: Vom ambitionierten Masterplan 2020 spüren wir hier so gut wie nichts. Das gilt auch für die Umsetzung des Urteils des Bundesverfassungsgerichts zur Zulassung von Medizinstudierenden.

Wir hatten eigentlich gehofft, dazu unseren Input geben zu können, etwa in der Frage, welche Kriterien für die Auswahl junger Menschen aus unserer Sicht wichtig sind. Bisher Fehlanzeige. Hier könnten wir der Politik durchaus etwas bieten.

Apropos Politik: Was bietet die Politik denn Ihnen? Im Herbst sind Landtagswahlen in Sachsen. Wer hat aus Ihrer Sicht das interessanteste gesundheitspolitische Konzept?

Keine einfache Frage. Vielleicht beschreibt es die Bremer SPD-Gesundheitssenatorin ganz gut, wenn sie sinngemäß sagt: Egal welche Partei regiert, eine gute Gesundheitsversorgung muss immer gewährleistet sein. Aber wie sollte Gesundheitsversorgung aufgestellt sein? Hier sehe ich bei allen Defizite. Kernproblem ist die Vermengung der Begriffe Gesundheitswesen und Gesundheitswirtschaft. Gesundheitswesen ist eine Teilmenge der Gesundheitswirtschaft. Gesundheitswesen ist aber auch Daseinsvorsorge.

Wenn ich versuche, einen Teil der Daseinsvorsorge immer stärker zu regulieren, wird es schwierig, ein geordnetes Gesundheitswesen zu organisieren, insbesondere dann, wenn ich andere Bereiche der Gesundheitswirtschaft dem freien Markt überlasse. Hier vermisse ich bei allen Parteien eine klare Position. Ich möchte das auch an der Pflege festmachen, wie wichtig die anderen Gesundheitsfachberufe sind. Wir setzen hier auf gemeinsame Kompetenz und Verantwortung. Auch dazu sollten sich die Parteien äußern.

Nach jüngsten Umfragen dürfte die AfD zweitstärkste Partei im Land werden. Sehen Sie dadurch möglicherweise die Balance im gesundheitspolitischen Diskurs gefährdet?

Bislang kenne ich kein gesundheitspolitisches Konzept der AfD, mit dem ich mich sachlich auseinandersetzen könnte. Sie ist eine populistische Partei, sie ist gewählt und gehört zum demokratischen Spektrum dazu. Wie gesagt, ich vermisse eine entsprechende Programmatik – das müssen wir so zur Kenntnis nehmen.

Meine Vorstellungen von einem funktionierenden Gesundheitswesen habe ich versucht deutlich zu machen: klare Ablehnung zentralistischer Strukturen, und eine starke Ausrichtung am Prinzip der Subsidiarität.

  • Aktuelle Position: seit Juni 2015 Präsident der Sächsischen Landesärztekammer; zuständig in der Bundesärztekammer für den Bereich Telematik; darüber hinaus Mitglied in verschiedenen ständigen Konferenzen und im Ausschuss ambulante Versorgung
  • Ausbildung: Studium Humanmedizin in Leipzig, 1997 Facharzt für Allgemeinmedizin, 2006 Zusatzbezeichnung Diabetologie, 2010 Palliativmedizin
  • Werdegang: 1999 Mitglied der Kammerversammlung der Sächsischen Landesärztekammer; 2000-2009 Vorsitzender der Kreisärztekammer des Muldentalkreises, seit 2003 Mitglied des Vorstands der Sächsischen LÄK, seit 2007 Vizepräsident der Sächsischen LÄK
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