Hausärztetag in Baden-Württemberg

Massive Kritik am Termingesetz

Keine verbesserte Steuerung der Patienten, mehr „unnötige“ Arzttermine, keine Anreize für mehr HzV-Verträge – in Stuttgart wurde am Wochenende das TSVG zerpflückt.

Denis NößlerVon Denis Nößler Veröffentlicht:
Waren sich einig in ihrer Kritik am Terminservicegesetz TSVG (v. l. n. r.): Dr. Christopher Hermann, Vorstandsvorsitzender AOK Baden-Württemberg, Dr. Susanne Bublitz, Hausärztin aus Pfedelbach, und Dr. Norbert Metke, Vorstandsvorsitzender der Kassenärztlichen Vereinigung Baden-Württemberg.

Waren sich einig in ihrer Kritik am Terminservicegesetz TSVG (v. l. n. r.): Dr. Christopher Hermann, Vorstandsvorsitzender AOK Baden-Württemberg, Dr. Susanne Bublitz, Hausärztin aus Pfedelbach, und Dr. Norbert Metke, Vorstandsvorsitzender der Kassenärztlichen Vereinigung Baden-Württemberg.

© Denis Nößler

STUTTGART. „Luftnummer“, „uninspiriert“, „irre“ – Politiker der Großen Koalition im Bund haben beim 17. Baden-Württembergischen Hausärztetag derbe Kritik für ihr Terminservicegesetz TSVG einstecken müssen. Es sei ein „riesiges Bürokratiemonster“, das die Fehlsteuerung im Gesundheitswesen noch verschärfe, war der Tenor bei der Veranstaltung des Südwest-Hausärzteverbands am Samstag in Stuttgart.

Dr. Frank-Dieter Braun, der zweite Vorsitzende des Hausärzteverbands im Ländle, sprach von „organisierter Verantwortungslosigkeit“: „Die freie Arztwahl ist eine heilige Kuh, aber der ungesteuerte Zugang zu Ärzten ist nicht bezahlbar.“ Auch verbessere er nicht die Versorgung.

Der scheidende Chef der AOK Baden-Württemberg, Dr. Christopher Hermann, meinte, mit den Neuregelungen wolle „Deutschland Weltmeister bei den Arztkontakten bleiben – im Fußball klappt’s ja nicht mehr“. Nach Zahlen der KBV kommt jeder GKV-Versicherte im Durchschnitt auf rund 14 Arztkontakte pro Jahr. Laut OECD wäre Deutschland damit zumindest für die „Champions League“ qualifiziert: Nur Korea, die Slowakei und Ungarn haben demnach noch mehr Arztkontakte pro Kopf.

Hermann zur Terminvergabe: "Wie beim Pizaservice"

Ziel der Kritik sind die Terminservicestellen (TSS). Die müssen die Kassenärztlichen Vereinigungen deutlich ausbauen. Ab dem kommenden Jahr sollen sie rund um die Uhr erreichbar sein und Termine zu allen Ärzten vermitteln. Alle Vertragsärzte müssen dann freie Termine an die TSS übermitteln. Grundversorgende Fachärzte müssen jede Woche außerdem mindestens fünf Stunden als offene Sprechstunde anbieten.

Für AOK-Chef Hermann führt diese Regelung dazu, dass die Inanspruchnahme ärztlicher Leistungen künftig „wie beim Pizzaservice“ ablaufe: „Ich rufe an und lasse mir einen Facharzttermin bringen“. Der vermeintliche Terminmangel bei niedergelassenen Ärzte sei jedoch ein „faktisches Scheinproblem“, das bis heute nicht bewiesen sei, so Hermann.

„Mit der TSS bekommen diejenigen einen Termin, die einen wollen und nicht die, die einen brauchen“, monierte auch Dr. Susanne Bublitz. Die Hausärztin aus Pfedelbach bei Heilbronn beklagte, dass Patienten mit Bagatellerkrankungen die Praxen verstopften. Viele Menschen hätten kein Gefühl mehr für ihre eigene Gesundheit. „Die Politik muss aufhören den Patienten zu sagen, dass sie wegen jedem Käse kommen dürfen.“

Weigeldt: "Gnadenlose Überversorgung"

Auch Dr. Norbert Metke, Vorstandsvorsitzender der Südwest-KV, widersprach, dass die Zahl der Termine das entscheidende Problem im Gesundheitswesen sei. Die neun Millionen GKV-Versicherten im Ländle würden jedes Jahr rund 160 Millionen ambulante Arztkontakte auslösen. „Wir haben genug Termine“, sagte Metke. „Das Problem ist, dass jeder hintappen kann, wo er will!“

Fachärzte hätten keine Terminengpässe, „wenn wir dort nur die Patienten hätten, die wirklich dorthin müssten“. „Gnadenlose Überversorgung“ nannte das Ulrich Weigeldt, der Bundesvorsitzende des Deutschen Hausärzteverbands.

KV-Chef Metke vermisst im TSVG ein „Mehr an Steuerung“, wie es der Sachverständigenrat zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen zuletzt empfohlen hat. AOK-Chef Hermann sprach gar von „Destrukturierung“, die mit dem TSVG Einzug halte. Die ärztliche Versorgung auf dem Land adressiere das Gesetz überhaupt nicht. „Wenn man (den Ärzten, Anm.) irgendwelche Termine hineindrückt, wird das auch nicht besser, sondern schlechter.“

Auch an den Boni, die Krankenkassen künftig an ihre Versicherten in der hausarztzentrierten Versorgung (HzV) ausschütten sollen, ließ das Podium in Stuttgart kein gutes Haar. Hermann nannte die Änderung in Paragraf 53 SGB V eine „völlige Luftnummer“ und zeigte sich skeptisch, ob dadurch wirklich mehr Krankenkassen motiviert werden, HzV-Verträge anzubieten. „Das sitzen diese Kassen locker aus.“.

Selbst die Stuttgarter CDU-Politikerin Karin Maag, gesundheitspolitische Sprecherin der Union im Bundestag, konnte nur die Hoffnung äußern, „dass da mehr rauskommt“, aber: „Ich bin mir noch lange nicht sicher.“ Sie fordert vielmehr von Hermann, er müsse im AOK-System für die HzV werben. „Das ist doch nicht unbedingt meine Aufgabe“, so Maag.

Der AOK-Chef konterte: „Die Gesetzgebungskompetenz für das SGB V liegt im Wesentlichen beim Bundestag.“

Versorgung im Südwesten

  • 9 Mio. GKV-Versicherte leben im Ländle.
  • 58 Mio. ambulante Behandlungsfälle verursachen sie nach Angaben von KV-Chef Metke pro Jahr im GKV-System.
  • 160 Mio. Sprechstundentermine entstehen dadurch (knapp 3 je Behandlungsfall).
  • 1,6 Mio. GKV-Versicherte im Ländle nehmen allein am AOK-Hausarztprogramm teil.
  • 600.000 Versicherte sind mittlerweile in Facharztverträgen der AOK eingeschrieben.
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