Frankreichs Gesundheitssystem in der Krise

Konsequent wird der Geldhahn für die Sécurité Sociale in Frankreich immer stärker zugedreht. Das bringt nicht nur Patienten, sondern zunehmend auch Frankreichs Ärzte in die Bredouille.

Denis Durand de BousingenVon Denis Durand de Bousingen Veröffentlicht:
Das waren noch Zeiten: Ärzte bei einer Protestaktion im März 2003 in Paris. Im Jahr 2012 haben sie Hoffnungen auf höhere Honorare abgeschrieben.

Das waren noch Zeiten: Ärzte bei einer Protestaktion im März 2003 in Paris. Im Jahr 2012 haben sie Hoffnungen auf höhere Honorare abgeschrieben.

© dpa

PARIS. Seit 1976 hat die 1946 gegründete französische gesetzliche Sozialversicherung Sécurité Sociale fast jedes Jahr rote Zahlen geschrieben.

Jetzt muss die Versicherung nicht nur ihre Altlasten abbauen, sondern auch zusätzlich helfen, den allgemeinen Schuldenberg Frankreichs abzutragen - eine doppelte Belastung, die Ärzte und Patienten trifft.

2010 hat Frankreich insgesamt 234 Milliarden Euro für Gesundheit ausgegeben, knapp 76 Prozent (176,5 Milliarden oder 9,1 Prozent des Bruttosozialprodukts) wurden von der  Sécurité Sociale übernommen.

In der ersten Hälfte der 2000er Jahren waren die Ausgaben gedeckelt, seit 2008 schreibt die Sécurité Sociale erneut tiefrote Zahlen. Ende 2009 wies die Sozialversicherung ein Defizit von 23,9 Milliarden Euro auf, darunter 11,4 Milliarden Euro für die Krankenversicherung und 10,8 Milliarden Euro für die Rente, die zweite der insgesamt vier Versicherungssäulen.

Einsparungen von zwölf Milliarden Euro bis Ende 2012

Die Sécurité Sociale wird zum allergrößten Teil aus Arbeitnehmer- und Arbeitgeberbeiträgen finanziert, und hängt deswegen vom Arbeitsmarkt ab. Nimmt die Arbeitslosigkeit wie 2010 erneut zu, sinken automatisch die Einnahmen.

Noch vor einem Jahr plante die Regierung, das Defizit sowie die Altlasten der Vorjahre nach und nach bis 2015 zu beseitigen. Im August 2011 musste Premierminister François Fillon aber einen  Notplan vorstellen, als Frankreich unter dem Druck der EU-Kommission, aufgefordert wurde, seine Schulden schneller als geplant abzubauen.

Bis Ende 2012 soll Frankreich zusätzlich zu den schon geplanten Ersparnissen weitere zwölf Milliarden Euro sparen, von denen knapp sechs Milliarden aus der Krankenversicherung stammen sollen. Dies soll das Defizit der Krankenversicherung halbieren.

Einige Wochen später sah sich Frankreich aber verpflichtet, wegen schlechter Wachstumsprognosen zusätzlich 500 Millionen Euro zu sparen.

In Frankreich werden seit 1995 Gesundheitsausgaben mit einer jährlichen Steigerungsquote, dem sogenannten "Objectif National des Dépenses d'Assurance Maladie" (ONDAM) vom Parlament festgelegt. Im Sommer vergangenen Jahres stimmten das Parlament und die Regierung einer Steigerungsquote für ambulante sowie stationäre Leistungen von 2,8 Prozent für 2012 zu.

Wegen des Spardrucks wurde die Steigerungsrate dann auf noch 2,5 Prozent gesenkt - eine Vorgabe, die mindestens bis 2016 in Kraft bleiben wird.

Ärzte sind frustriert

Der Frust ist groß - auch in der Ärzteschaft. "Wenn ich die heutige Befindlichkeit meiner Kollegen beschreiben soll, fällt mir nur diese Beschreibung ein: Wir sind machtlos und desillusioniert", sagt der niedergelassene Lungenarzt Dr. Pascal Charles, der seit Jahren als Präsident der Elsässischen Ärztevereinigung seine niedergelassene Kollegen vertritt.

"Im Frühjahr 2011 haben wir einen neuen Tarifvertrag mit der Krankenversicherung unterschrieben, der Honorarerhöhungen ab Ende 2012 unter bestimmten Bedingungen vorsieht. Inzwischen glaubt niemand mehr an diese Erhöhungen", sagt er. Ärzte müssten - wie allen anderen Bürger auch - den Preis für die Finanzkrise zahlen, bedauert Charles,

Die Verhandlungen mit den Kassen stünden unter einem denkbar schlechten Stern. "Es gibt definitiv kein Geld mehr, um die finanzielle Situation der Ärzte zu verbessern. Die Bürger würden einen Ärzteaufstand weder verstehen noch unterstützen." Die einzige Chance für Ärzte, mehr zu verdienen, ergebe sich aus der demografischen Entwicklung.

Da immer mehr Ärzte in Pension gingen, wachse die Arbeit für die verbleibenden Kollegen, erwartet Charles.  "In fünf bis sieben Jahren wird es an niedergelassenen Ärzten mangeln", sagt Charles, "und wenn Frankreich bis dann die Arbeitsbedingungen unserer jüngeren Kollegen nicht verbessert, wird es für alle sehr eng", warnt er.

Ärzte seien als Unternehmer sogar doppelt in der Klemme. Wenn die Regierung wie derzeit die Vergütung etwa für technische Leistungen senkt, büßen sie zum einen an Umsatz ein.

Gleichzeitig nehmen die Fixkosten zu, parallel dazu dreht der Staat an der Steuerschraube. Was bleibt? "Ärzte können nichts anderes tun, als weiter im Interesse ihren Patienten zu arbeiten", sagt Charles.

Lesen Sie dazu auch: Französische Patienten müssen tief in die Tasche greifen

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