Alle Schweizer ab ins Netz?

Gesundheitspolitik per Volksabstimmung: Was in Deutschland undenkbar ist, gehört in der Schweiz zur gelebten direkten Demokratie. Am Sonntag stimmen die Eidgenossen darüber ab, ob Managed Care zum Regelfall werden soll.

Von Sabine Schiner Veröffentlicht:
In der Schweiz hat der Souverän auch in Einzelfragen das letzte Wort.

In der Schweiz hat der Souverän auch in Einzelfragen das letzte Wort.

© Tupungato / shutterstock.com

BERN. Die Delegierten des jüngsten Deutschen Ärztetages haben sich für mehr Kooperationen und Vernetzung ausgesprochen. Die Schweiz ist Deutschland in diesem Punkt um einiges voraus.

Etwa 17 Prozent aller Versicherten sind heute bereits in Integrierte Versorgungsmodelle eingeschrieben. Geht es nach dem Willen des Bundesrates in Bern, soll dieser Anteil auf 60 Prozent erhöht werden.

Über die Gesetzesvorlage stimmen die Schweizer am 17. Juni ab. Bei den Ärzten gehen die Meinungen allerdings auseinander.

Die Managed-Care-Vorlage ist Teil einer Reform des Krankenversicherungsgesetzes (KVG). Ziel ist, mit Hilfe von Netzen die Qualität der medizinischen Behandlung und die Versorgung zu verbessern und unnötige Kosten zu vermeiden.

Es geht dabei um Kooperationen von Ärzten, Psychotherapeuten, Apothekern, Klinik- oder Pflegeheimvertretern, die den Versicherten eine umfassende koordinierte Behandlung bieten.

Netze mit Budgetverantwortung

Die Netze müssen den Zugang zu allen Leistungen der obligatorischen Krankenpflegeversicherung sicherstellen. Sie sind eigenständig organisiert und schließen mit einem oder mehreren Krankenversicherern Verträge über die Art der Zusammenarbeit, der Qualitätssicherung und über die Vergütung von Leistungen ab. Dazu gehört auch, dass sie Budgetverantwortung übernehmen.

Wie es beim Bundesamt für Gesundheit in Bern heißt, soll das Modell für Ärzte ein Anreiz sein, um unnötige Untersuchungen oder Therapien zu vermeiden. Gleichzeitig soll auch der Risikoausgleich unter den Krankenkassen neu geregelt werden.

Das Krankenversicherungssystem wird durch die Managed-Care-Vorlage nicht in Frage gestellt. Beim Grundmodell beträgt die Franchise 300 Franken (etwa 232 Euro) für einen Erwachsenen. Bis zu einem maximalen Selbstbehalt von 700 Franken (etwa 541 Euro) pro Jahr muss sich der Versicherte mit zehn Prozent an den Kosten beteiligen.

Je nach Versicherungsmodell können die Schweizer auch höhere Franchisen wählen. Wer die freie Arztwahl möchte, zahlt bei einem Maximalbetrag von 1000 Franken (etwa 773 Euro) einen Selbstbehalt von 15 Prozent.

Entscheiden sich die Versicherten für das Managed-Care-Modell, wird es günstiger: Der jährliche Anteil beträgt dann höchstens zehn Prozent (maximal 500 Franken), er kann aber auch teilweise oder ganz entfallen.

Die Schweizer haben mit dem Integrierten Versorgungsmodell bislang gute Erfahrungen gemacht. Seit 2008 hat sich die Zahl der Menschen, die sich für die Behandlung in Netzen entschieden hat, verdoppelt. Nach einer Umfrage des "Forum Managed Care" im Kanton Zug gehören derzeit 17 Prozent der Bevölkerung (1,33 Millionen Krankenversicherte) einem Ärztenetz an.

Neun von zehn Ärztenetze haben Budgetverantwortung. Die Verteilung der Netze im Land ist allerdings nicht homogen, sondern verläuft entlang des sogenannten Röstigrabens: In der Deutschschweiz gibt es wesentlich mehr Netze als in der lateinischen Schweiz.

Schweizer Ärzte gespalten

Uneinigkeit herrscht auch in der Ärzteschaft. Für die Gesetzesvorlage sind der Verband Hausärzte Schweiz und der Dachverband der Schweizer Ärztenetze.

Dem Gegenkomitee gehören Vertreter der Schweizerischen Ärztevereinigung FMH (Foederatio Medicorum Helveticorum), der Verband der Schweizer Assistenz- und Oberärzte und der Verband H+ der Schweizer Spitäler an.

Ihre Argumente: Durch die Budgetmitverantwortung der Ärztenetze erhielten die Kassen ein Druckmittel, die Ausgaben möglichst niedrig zu halten.

Diese Sparpolitik führe zu Qualitätsverlusten. Werde Managed Care in der Regelversorgung verankert, sei die freie Arztwahl mit ihren höheren Prämien nur noch für finanziell Bessergestellte möglich.

Der Hausarzt und FMH-Präsident Jacques de Haller, der die Interessen von 35.000 Mitgliedern vertritt, sieht in der Managed-Care-Vorlage auch die medizinische Ethik gefährdet: Die Einschränkung der freien Arztwahl gefährde die emotionale Bindung zwischen Arzt und Patient und führe zu einer Zweiklassenmedizin.

Netze bieten Ärzten Vorteile

Auch in Deutschland spielen Kooperationen längst eine wichtige Rolle. Die Zahl der Ärztenetze hat sich in den vergangenen zehn Jahren von 200 auf 400 verdoppelt.

Um die Versorgung etwa in ländlichen Regionen sicherzustellen - und um den Wert der eigenen Praxis zu erhöhen - werden immer mehr Ärzte aktiv: Sie eröffnen Zweigpraxen, beschäftigen angestellte Kollegen oder bauen mit Apothekern und Vertretern anderer Gesundheitsberufe Ärztehäuser und Gesundheitszentren auf.

"Es gibt keine Alternative zu Netzen", sagt Professor Volker Amelung, Vorstandsvorsitzender des Bundesverbandes Managed Care in Berlin.

Er nennt zwei Faktoren: Immer mehr junge Ärzte seien das Einzelkämpfer-Dasein leid. Und: "Multimorbide Patienten können Sie als einzelner Arzt nicht adäquat behandeln, zur Qualitätsverbesserung brauchen Sie ein Netz an Spezialisten."

Am 17. Juni wird auch Amelung abstimmen, er ist Schweizer Staatsbürger. Er geht davon aus, dass die Gesetzesvorlage eher keine Mehrheit bekommen wird: "Die meisten werden Managed Care ablehnen, weil sie damit nur eine Einschränkung der Arztwahl verbinden."

Lesen Sie dazu auch den Kommentar: Managed Care als Zwangsmittel?

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