Der gläserne Patient

Britische Hausärzte rebellieren gegen Big Data

Mit Überwachung hatten die Briten bislang kein Problem - die Kameras an Straßen und Bahnhöfen sind ihnen egal. Doch jetzt ist die Regierung zu weit gegangen: Ärzte sollen bald ihre Patientendaten an den NHS weiterleiten - und zwar verpflichtend. Der Protest wird größer. Jetzt rufen die Hausärzte zur Revolte.

Arndt StrieglerVon Arndt Striegler Veröffentlicht:
Gläserne Patientin im Jahr 1934 - samt Radiologen im Vollschutzanzug: Heutigentags sorgen gläserne Patienten andere Couleur für merkwürdige Luxationen der Ärzte - wie derzeit in Großbritannien.

Gläserne Patientin im Jahr 1934 - samt Radiologen im Vollschutzanzug: Heutigentags sorgen gläserne Patienten andere Couleur für merkwürdige Luxationen der Ärzte - wie derzeit in Großbritannien.

© Austrian Archives / IMAGNO / dpa

LONDON. Aufregung in Großbritannien um Patientenakten und den Datenschutz. Dutzende Hausärzte des staatlichen Gesundheitsdienstes drohen mit einer Revolte: sie weigern sich, an einer im März beginnenden landesweiten Aktion zum Datenaustausch teilzunehmen, bei der vertrauliche Patientendaten an Dritte weitergegeben werden sollen.

Dass das Thema gesundheitspolitisch überhaupt derart große Aufmerksamkeit findet, ist eigentlich überraschend. Die Briten sorgen sich für gewöhnlich wesentlich weniger um den Datenschutz, als dies zum Beispiel in Deutschland der Fall ist.

Das sieht man schon daran, dass es in keinem anderen westeuropäischen Land mehr Überwachungskameras in Bahnhöfen, Einkaufspassagen und auf den Straßen der Städte gibt als in Großbritannien - ohne dass sich groß jemand daran stört.

Doch augenscheinlich sind die Gesundheitspolitiker und Verantwortlichen jetzt einen Schritt zu weit gegangen. Die Regierung Cameron kündigte kürzlich an, vom März 2014 an alle Hausärzte des staatlichen Gesundheitsdienstes (National Health Service, NHS) vertraglich zu verpflichten, Patientendaten an einen zentralen NHS-Rechner weiterzugeben.

"Die Daten sind sicher", sagte ein Sprecher des Londoner Gesundheitsministeriums der "Ärzte Zeitung". Und: "Je mehr Patientendaten wir haben, desto leichter ist es, unsere diagnostischen und therapeutischen Versorgungsangebote zu optimieren."

Freilich: Als die "Ärzte Zeitung" wissen wollte, wie sicher die individuellen Patienteninformationen wirklich sind, sobald sie die hausärztliche Praxis verlassen, blieb das Londoner Gesundheitsministerium konkrete Antworten schuldig. Man arbeite derzeit noch an Details, hieß es lediglich.

Ärzte, die nicht kooperieren, könnte das den Job kosten

Genau dieser Mangel an konkreten Informationen von offizieller Seite ist es, der viele britische Primärärzte misstrauisch macht.

"Ich werde garantiert nicht eine Patientenakte heraus rücken", so der Oxforder Allgemeinarzt Dr. Gordon Gancz. Der Mediziner kündigte an, alle Patienteninformationen in seiner Praxis vertraulich zu behandeln und im März nicht an die NHS-Verwaltung weiter zu reichen.

Das könnte ihn im ungünstigsten Fall den Job kosten, da alle staatlichen Hausärzte "eine vertragliche Pflicht" hätten, zu kooperieren, warnte das Gesundheitsministerium.

Das Gesundheitsministerium beruft sich dabei auf ein Gesetz namens "Health and Social Care Act", welches festlege, dass die NHS-Verwaltung einen Anspruch auf die Informationen aus den NHS-Hausarztpraxen habe und dass jeder der rund 75.000 staatlichen Hausärzte verpflichtet sei, die Daten heraus zu geben.

Als die medizinische Fachpublikation "Pulse" kürzlich rund 400 NHS-Hausärzte befragte, sagten 40 Prozent, sie wollten sich nicht an der geplanten Datenweitergabe beteiligen. Häufigster Grund für die Weigerung: der Datenschutz und konkret die Sorge, dass die Daten zum Beispiel an Versicherungen und an andere kommerzielle Unternehmen weitergegeben werden könnten.

"Da fehlen die Garantien und klaren Bestimmungen", so der Londoner Arzt Dr. Al Teague gegenüber der "Ärzte Zeitung". "Ich bin skeptisch und verstehe das Misstrauen der Kollegen."

Ärztebund: Hausärzte wollen jeden Patienten einzeln befragen

Der britische Ärztebund (British Medical Association, BMA) berichtet, dass sich landesweit "zahlreiche" Hausärzte kritisch zu Wort gemeldet hätten. Die Ärztinnen und Ärzte brachten ihre Sorge über die Einhaltung des Datenschutzes zum Ausdruck.

Dutzende Hausarztpraxen zwischen London und Liverpool wollen von März an alle Patienten einzeln danach befragen, ob sie mit einer Weitergabe ihrer persönlichen Informationen einverstanden sind. Sagt der Patient "no", wird die Patientenakte nicht an die NHS-Verwaltung weiter geleitet.

Gesundheitspolitische Beobachter rechnen damit, dass Millionen Hausarztpatienten der Weitergabe ihrer persönlichen Gesundheitsinformationen nicht zustimmen werden. Einige Praxen verlangen vom Patienten, dass er dies schriftlich entweder per Brief oder per E-Mail tut.

Andere Hausarztpraxen wollen ihre Patienten mündlich auf die Möglichkeit hinweisen, keine Informationen an Dritte weiter zu geben. Wiederum andere Praxen wollen ihre Patienten mit speziell gedruckten Merkblättern informieren. Laut BMA braut sich innerhalb der Ärzteschaft derzeit ein regelrechter Aufstand gegen die neuen Bestimmungen zusammen. "Das wird noch heiß", so ein BMA-Sprecher.

Großbritannien hat seit 1948 einen staatlichen Gesundheitsdienst, der nach dem Primärarztprinzip funktioniert. Erste Anlaufstelle für den Patienten ist der Hausarzt. Dieser überweist den Patienten dann gegebenenfalls an einen Facharzt oder ins Krankenhaus. Die Fachärzte arbeiten in den Kliniken und nicht in freier Praxis. Der NHS wird größtenteils aus allgemeinen Steuermitteln finanziert.

Eines steht fest: Gesundheitsminister Jeremy Hunt wird keinen leichten Stand haben, die britischen Hausärzte vom Nutzen und von der datenschutzrechtlichen Unbedenklichkeit des "Health and Social Care Act" zu überzeugen.

In den Praxen mehrt sich der Groll. Und Millionen Patienten sorgen sich - vielleicht erstmals in der Geschichte des NHS - ernsthaft um den Datenschutz. Wahrlich eine kleine Revolution für das Königreich.

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