Indien

Erfolgreiches Programm gegen Polio

Das Unmögliche möglich gemacht: 200.000 Kinder infizierten sich noch vor rund 30 Jahren jedes Jahr auf dem Subkontinent mit dem Polio-Virus. Die Kinderlähmung vollständig zu besiegen schien unvorstellbar. Doch seit drei Jahren ist Indien offiziell polio-frei - dank eines bislang weltweit einmaligen Programms.

Von Martina Merten Veröffentlicht:
Warten auf die Impfung: Kinder in Indien.

Warten auf die Impfung: Kinder in Indien.

© Subir Roy

LUCKNOW. Es gibt immer Gewinner im Leben. Und es gibt diejenigen, die verlieren. Rekha zählt zu den Verlierern. Die indische Frau lebt in Takrohi Bazar, einem Stadtteil von Lucknow, der Hauptstadt des bevölkerungsreichsten indischen Bundesstaates Uttar Pradesh.

Sie war gerade einmal acht Monate alt, als sie sich mit dem Polio-Virus infizierte. Heute ist Rekha 26 Jahre alt. Mit Ausnahme ihrer Arme und ihres Oberkörpers ist die junge Frau gelähmt.

"Ich wäre so gerne unabhängig von meinen Eltern und hätte mein eigenes Leben", sagt sie. Doch die Steifheit ihrer Beine macht ein selbstbestimmtes Leben unmöglich. Eine Familie wird Rekha in einem Land wie Indien niemals haben.

200.000 Kinder steckten sich Ende der 1980er Jahre mit Poliomyelitis an - Jahr für Jahr. Entweder starben sie an der Infektionskrankheit oder leiden noch heute - wie Rekha - unter Lähmungen. Weltweit waren es 350.000 Kinder zu dieser Zeit, es steckten sich fast 1000 Kinder mit dem Virus an - an jedem einzelnen Tag.

Rekha zählte nicht zu den Kindern, die als Ergebnis der so genannten "Global Polio Eradication Initiative" im Zuge von Impftagen einen winzigen Tropfen des Impfstoffes gegen das Virus in den Mund geträufelt bekamen. Sie zählt zu den 26 Millionen Menschen auf dem Subkontinent, die unter einer Behinderung leiden.

Alarmiert von Schicksalen wie dem der jungen Frau rief Rotary International bereits 1985 die "PolioPlus"-Initiative ins Leben. Das ambitionierte Ziel der Organisation lautete: Ausrottung des Virus - weltweit.

WHO und Rotary in einem Boot

Drei Jahre später konnten Rotary und die Weltgesundheitsorganisation WHO die Weltgesundheitsversammlung der Vereinten Nationen davon überzeugen, eine Resolution zu verabschieden.

Das darin formulierte Ziel war dasselbe wie drei Jahre zuvor: Ausrottung - und zwar im Zuge einer vereinten Aktion von WHO, Rotary, der US Seuchenschutzbehörde (CDC) und der Kinderhilfsorganisation UNICEF.

Es war die Geburtsstunde der "Global Polio Eradication Initiative" - der globalen Ausrottungs-Initiative gegen das Virus. "Wir waren fest davon überzeugt, dass Polio nach den Pocken die nächste Erkrankung sein könnte, die man auslöschen kann", berichtet Deepak Kapur, Vorsitzender des Rotary National Polio Plus Komitees in Indien.

Was Millionen, insbesondere lokale Helfer auf dem Subkontinent in den Folgejahren auf die Beine gestellt haben, ist zahlenmäßig kaum zu begreifen: 1995 führte die indische Regierung mit Unterstützung von WHO, Rotary, dem CDC und UNICEF erstmals nationale Impftage durch.

Während jeder dieser fünftägigen Kampagnen werden nach Aussagen der Partner der Initiative 170 Millionen Kinder erreicht, rund 240 Millionen Häuser aufgesucht und viele Impfärzte eingesetzt.

Das ist noch nicht alles: Zusätzlich finden auf Ebene der Bundesstaaten bis zu achtmal jährlich "Sub-Immunization-Days" statt. Während dieser fünftägigen Kampagnen impfen Teams aus lokalen Helfern nochmals jeweils 35 Millionen Kinder unter fünf Jahren.

Ein Euro Lohn, acht Stunden Arbeit

In einer Slumgegend von Lucknow sitzen zwei Frauen auf kleinen Plastikhockern. Eine der beiden heißt Kashifa Fatima. Kashifa hilft nicht zum ersten Mal im Rahmen der Impftage in Uttar Pradesh mit.

Bereits letztes Jahr zählte die Studentin zu einem der 64.000 Impfteams, die die Regierung zusammenstellt, um an 100.000 Stationen, die sich über das jeweilige Bundesland verteilen, zu impfen.

Spätfolgen: Eine Polio-Patientin wird in einem Krankenhaus in Delhi versorgt.

Spätfolgen: Eine Polio-Patientin wird in einem Krankenhaus in Delhi versorgt.

© Anindito Mukherjee, reuters

Kashifa erhält für die acht Stunden, die sie an dem Stand steht und Eltern von kleinen Kindern von einer Polio-Impfung überzeugt, umgerechnet einen Euro.

Im Vorfeld der Kampagne, erzählt Dr. Sunil Bahl, Verantwortlicher für Impfprogramme in Südostasien bei der WHO in Delhi, schult die Regierung Frauen wie Kashifa. Im Fokus stehen dabei der richtige Umgang mit dem Impfstoff und die Kampagne im Allgemeinen. Jeder Schritt muss sitzen.

Denn nicht zuletzt müssen die Helfer jeden einzelnen Tropfen des lebenswichtigen Impfstoffes akkurat in den Mund der Kinder träufeln.

Sozialarbeiter im Fokus

Nicht an jeden Stand kommen gleichviele Kinder, erzählt Kashifa. Wie viele kommen und sich an den Stationen impfen lassen, ist immer auch abhängig von der Gegend und davon, wie gut die Sozialarbeiter, die den Impf-Teams angehören, die Gegend und deren Einwohner kennen. Denn sie sind es bisweilen, die die Menschen an die Impfstände bringen - und die sie von dem Tropfen und dessen Wirkung überzeugen.

Dr. Sunil Bahl hält einen Moment lang inne, als er von den Erfolgen der letzten beiden Jahrzehnte erzählt. Schließlich, sagt er nach einer Weile, gab es viele Hürden, die die Partner der Initiative zu überwinden hatten. Eine davon: die vielen Migranten in Indien.

4,2 Millionen Kinder haben nach Angaben von Bahl keinen festen Wohnsitz. "Wir mussten jedes dieser Kinder trotzdem finden und erfassen", unterstreicht der Inder eine der größten Herausforderungen des Programms.

2005 entwarf die WHO eine Spezialstrategie für Migranten. Infolge dieser Strategie sind inzwischen rund 10 000 Teams allein an Transitpunkten - also an Bahnhöfen, Bushaltestellen, in Zügen, Bussen, auf Märkten oder auf Autobahnen - unterwegs.

Während jeder einzelnen Kampagne werden inzwischen rund zwei Millionen Kinder "on the move" - also unterwegs - geimpft.

Vorbehalte bei Muslimen

Eine weitere zentrale Herausforderung nach Angaben von Rotary-Mann Deepak Kapur: die Ängste der muslimischen Bevölkerung Indiens vor dem Impfstoff. Ein Großteil der Polio-Infizierten waren noch bis vor wenigen Jahren Muslime.

Hier galt es, Vorurteile abzubauen, Religionsoberhäupter einzubinden und immer wieder Eltern von Kindern über die Bedeutung der Impfung aufzuklären.

Nicht zuletzt bedurfte die Erfassungsstrategie mehrerer Überarbeitungen. So wurden Bahl zufolge 1999 Finger-Markierungen eingeführt. Seitdem markieren Impfhelfer nach jeder Polio-Impfung den kleinen Finger des geimpften Kindes mit einem schwarzen Marker, der einige Tage lang hält.

Um wirklich auch alle Kinder zu erreichen, war es ebenso wichtig, sorgfältig alle Häuser und kleinen Hütten zu markieren, die die Impfteams aufsuchen. Inzwischen, glaubt Dr. Surendra K. Pathyarch, im WHO-Büro in Uttar Pradesh für die Initiative verantwortlich, "haben wir das beste Erfassungsprogramm der Welt entworfen".

Seit dem 13. Januar 2011 gab es keinen einzigen Fall von Polio in Indien mehr. 2014 hat die WHO Indien gemeinsam mit den anderen südostasiatischen Ländern zur polio-freien Zone erklärt.

Allerdings, sagt Pathyarch, gebe es immer die Möglichkeit, dass das Virus zurückkehre. Es sei nie auszuschließen, dass doch irgendein Kind in Indien nicht gefunden wird. Dieses Kind würde dann - wie Rekha - zu den Verlierern zählen. Und im schlimmsten Fall viele andere mit ihm.

PPS-Syndrom: Vergessene Patienten

Die Zukunft von Polio-Betroffenen bleibt ungewiss. Einige Patienten können Jahrzehnte später operiert werden. Andere, die rehabilitiert schienen, leiden später plötzlich erneut an Schmerzen.

DELHI. Sachitannand lächelt ein wenig. Es ist ein bescheidenes Lächeln. Chirurgen am St. Stephen Krankenhaus in Delhi haben den 26-Jährigen vor einigen Tagen an der Hüfte operiert. Es folgte kurz darauf sein Knie. Es ist breiter als sein Oberschenkel, sein linker Fuß steht diametral vom Körper ab.

Sachitannand war ein kleiner Junge, als das Polio Virus ihn befiel. Das Virus greift die Nervenzellen an und kann innerhalb weniger Stunden zu Lähmungserscheinungen aller Muskeln führen. Es werden weitere Operationen folgen müssen, sagt Dr. Matthew Varghese, der die Polio-Abteilung am St. Stephen Krankenhaus in Delhi leitet.

Mit Hilfe von Physiotherapie sollen die Gelenke des Mannes wieder mobilisiert werden. Sachitannand steht ein langer, steiniger Weg bevor. Aber immerhin hat er es hierhin geschafft.

Die Polio-Abteilung am St. Stephen Krankenhaus der Hauptstadt ist die einzige Spezialabteilung für Polio-Opfer in ganz Indien - einem Land, in dem 1,25 Milliarden Menschen leben.

Die Ausstattung der Abteilung ist gemessen an europäischen Standards denkbar schlicht. In den zwei Zimmern, die explizit für Polio-Betroffene gedacht sind, stehen jeweils drei Stahl-Betten an jeder Seite, über denen eine Nummer hängt.

26 Millionen Behinderte

26 Millionen Menschen leiden nach Angaben des Statistischen Bundesamtes in Indien unter Behinderungen, ein Großteil davon sind Behinderungen des Bewegungsapparats.

Noch vor zehn Jahren waren es ganze sechs Millionen Menschen weniger. Wie viele dieser Behinderungen auf das Polio-Virus zurückzuführen sind, darüber gibt es keine Zahlen.

Seit 1990, erklärt Varghese, wurden mehrere Tausend Polio-Betroffene in dieser Spezialabteilung operiert, ein Großteil der Patienten waren Muslime. 18 Ärzte arbeiten in der Spezialabteilung, pro Operation müssen zwei bis drei Ärzte anwesend sein.

Alle diese Operationen, erklärt einer der Ärzte auf der Abteilung, würden an Patienten vorgenommen, die schon seit Langem Polio haben. Aber auch diese alten Fälle könnten korrigiert werden.

Im Untergeschoss des Krankenhauses werden Prothesen und Gehhilfen für die Patienten auf der Polio-Abteilung angefertigt. Fast eine Woche lang arbeiten die Techniker mit Hochdruck daran.

Dr. A. K. Agrawal ist ein drahtiger Mann in den Siebzigern. Der orthopädische Chirurg lebt in einem schlicht eingerichteten Haus in Uttar Pradeshs Hauptstadt Lucknow.

Vereinzelt, berichtet er, sei er noch an einem Lehrkrankenhaus tätig. Ansonsten schreibe er Bücher - auch das Lehrbuch "Essentials of Prothetics and Orthotics". Eines der Kapitel widmet sich der Polio-Erkrankung.

Einsatz ohne Honorar

Dass Agrawal unzähligen Polio-Opfern die Hoffnung auf ein lebenswertes Dasein geschenkt hat - und das ohne Geld dafür zu verlangen -, darüber spricht er nicht. In den 80er, 90er Jahren hat der Arzt nach Angaben von Rotary International 60 bis 70 Fälle von Polio-Betroffenen jeden Monat behandelt.

"Heute sind es Patienten mit dem Post-Polio-Syndrom, die zu mir kommen", sagt Agrawal. Frische Fälle seien nicht länger das Problem.

Mit dem Post-Polio-Syndrom (PPS) schien keiner so richtig gerechnet zu haben. Agrawal schätzt, dass PPS etwa 70 Prozent der während der Kindheit mit dem Polio-Virus infizierten Patienten betrifft.

International nachgewiesene Zahlen gibt es keine. Nicht einmal zehn Prozent der indischen Bevölkerung verfügen über eine Krankenversicherung, die eine Behandlung abdecken könnte.

Patienten mit PPS waren Kinder, als das Polio-Virus sie befiel. Damals, erklärt Agrawal, seien sie vollständig rehabilitiert gewesen. Jetzt, zwanzig, dreißig Jahre nach stabilem Verlauf meldet sich ihr Körper plötzlich wieder. Sie leiden unter einer schleichenden Abnahme von Kraft und Ausdauer.

Ihre Gelenke schmerzen, ihre Muskeln verlieren an Kraft, zum Teil kommt es zu Krämpfen. Manche stürzen vermehrt und können bestimmte Tätigkeiten nicht mehr durchführen, so Agrawal. Allen Patienten ist dem Chirurgen zufolge gemein, dass sie zunehmend müde sind und weniger belastbar.

Die Diagnose eines PPS erfolgt lediglich anhand von Schilderungen der Patienten und durch Ausschluss anderer Erkrankungen. Was Agrawal an Therapiemöglichkeiten aufzählt, klingt banal. "Sie sollen sich in die Sonne setzen und ihr Leben langsamer führen", sagt der Chirurg. (mam)

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