Nach dem Brexit-Votum

Ein Gesundheitssystem kapselt sich ab

Passkontrolle in der Klinik: In Großbritannien sollen Ärzte neuerdings "Türsteher" sein. Es ist ein Zeichen der wachsenden Post-Brexit-Feindseligkeit: Statt der Verwaltung werden jetzt EU-Ausländer für die Misere im Gesundheitssystem verantwortlich gemacht.

Arndt StrieglerVon Arndt Striegler Veröffentlicht:
Das „Nein“ zur EU hinterlässt bereits Spuren.

Das „Nein“ zur EU hinterlässt bereits Spuren.

© Milasan / fotolia.com

Merkwürdige Zeiten herrschen im britischen Gesundheitswesen, seitdem das Land am 23. Juni entschied, die EU verlassen zu wollen. Jetzt sind britische Krankenhäuser von führenden Gesundheitspolitikern aufgefordert worden, Patienten grundsätzlich nach einem Ausweis oder Pass zu fragen, bevor sie behandelt werden. Ohne Ausweis keine Therapie: So solle verhindert werden, dass "Gesundheitstouristen", die keinen Anspruch auf Behandlung haben, den staatlichen Gesundheitsdienst (National Health Service, NHS) missbrauchen. Der Vorstoß gibt einen interessanten Einblick, wie sich Teile der britischen Gesundheitsversorgung nach der Brexit-Entscheidung rasant verändern.

Bislang ist es so, dass Patienten, die in ein Krankenhaus des NHS kommen, um dort behandelt zu werden, keinen Pass vorzeigen müssen. Jeder wird behandelt, und Ärzte weigerten sich jahrzehntelang, Türsteher im Gesundheitsdienst zu spielen, indem sie nach Identifizierung fragen. "Das ist nicht unsere Aufgabe. Ärzte sind dazu da, zu heilen", so ein Sprecher des britischen Ärzteverbandes (British Medical Association, BMA) gegenüber der "Ärzte Zeitung" in London. Und: "Wer zum Arzt kommt und Hilfe braucht, dem wird geholfen." Bald schon könnte damit in Großbritannien Schluss sein. Das ist alarmierend, sollen Ärzte hier doch direkt vor den Karren der Gesundheitspolitik gespannt werden, um deren schmutzige Arbeit zu leisten. Ärzte sind dazu da, Patienten zu heilen. Nicht, um Ausweise zu kontrollieren.

"Wir brauchen mehr Kontrolle"

Seitdem das Land mit knapper Mehrheit für einen Austritt aus der EU gestimmt hat, nehmen Ausländerfeindlichkeit und regelrechte Hetzkampagnen in den Medien gegenüber EU-Bürgern deutlich zu. Listen ausländischer Arbeitnehmer, die für britische Firmen arbeiten, Zwangsausweisungen hunderter Asylbewerber, Aufrufe britischer Politiker, bei Neueinstellungen das Prinzip "British First" anzuwenden – die Liste der Feindseligkeiten ist lang.

Da passt es gut ins Bild, dass der wichtigste Beamte im Londoner Gesundheitsministerium, Chris Wormald, jetzt anregte, in allen NHS-Kliniken eine grundsätzliche Ausweispflicht für alle Patienten einzuführen. "Wir brauchen mehr Kontrolle, wer unser Gesundheitssystem nutzt, ohne dafür zu bezahlen", so Wormald. Die Medizin wird damit zum Handlanger der Politik. Die ärztliche Berufsethik bleibt erst einmal auf der Strecke, doch das scheint aktuell niemanden so richtig zu stören.

Bereits heute werden in einigen wenigen britischen Krankenhäusern Patienten versuchsweise vor der Behandlung nach ihrem Ausweis gefragt. Eine dieser ausweispflichtigen Kliniken ist das Peterborough Hospital zwischen London und Birmingham. Dort wurde bereits 2013 eine Ausweispflicht für Nicht-Notfall-Patienten eingeführt. Was ursprünglich als kleiner Versuch der örtlichen Gesundheitsverwaltung startete, erwies sich laut Londoner Gesundheitsministerium als ein "großer Erfolg".

Seitdem Patienten in Peterborough nach ihrem Pass gefragt werden, seien die Einnahmen aus der Behandlung ausländischer Patienten jährlich um 145.000 Pfund (rund 155.000 Euro) gestiegen. Wurden früher lediglich 37 Prozent der Behandlungskosten ausländischer Patienten wieder reingeholt, so seien es heute rund 95 Prozent. Peterborough hat wie viele andere Städte Großbritanniens einen relativ hohen Anteil osteuropäischer Einwanderer.

Gesundheitsverwaltung funktioniert nicht gut

Freilich: Mit Brexit hat das kaum etwas zu tun. Schon heute sollten NHS-Kliniken die Behandlungskosten von EU-Patienten von den jeweiligen Ländern wiedererstattet bekommen. Doch das geschieht bislang nur selten. Wie aus Zahlen des Gesundheitsministeriums hervorgeht, hätten britische Kliniken im Haushaltsjahr 2012/13 – neuere Zahlen sind nicht erhältlich – umgerechnet rund 315 Millionen Euro an Behandlungskosten von anderen EU-Staaten zurückholen sollen. Tatsächlich wurden aber nur umgerechnet rund 55 Millionen Euro eingetrieben. Warum?

"Die NHS-Verwaltung ist ineffizient und langsam", erklärt ein Londoner Klinikarzt gegenüber der "Ärzte Zeitung". "Die Gesundheitsverwaltung funktioniert nicht gut." Und für die Politik ist es leichter, Feindbilder von ausländischen Patienten mit betrügerischen Absichten aufzubauen, als die miserable NHS-Verwaltung flott zu machen.

Dass Gesundheitsverwaltungen nicht immer effizient arbeiten, ist nichts Neues in England. Dass die Stimmung im Land allerdings derart gekippt ist, dass statt der lahmen Verwaltung jetzt EU-Ausländer für die Misere verantwortlich gemacht werden, zeigt, wie schnell und stark sich Großbritannien als Folge des Brexit verändert. Werden EU-Patienten schon bald Patienten der zweiten Klasse sein?

Das Gesundheitsministerium geht davon aus, dass eine allgemeine Ausweispflicht in Kliniken eine gute Sache sei. Im Haushaltsjahr 2017/18 erwartet das Ministerium, dass der NHS umgerechnet rund 560 Millionen Euro für die Behandlung von ausländischen Patienten ausgeben werde. Davon sollen dann rund 370 Millionen Euro in Rechnung gestellt und 310 Millionen Euro eingetrieben werden.

Unklar ist, ob die britischen Ärzte mitziehen werden. Was aber klar ist: Für EU-Patienten verändern sich die Dinge im britischen Gesundheitswesen derzeit schneller als viele dies vor dem Brexit-Votum für möglich gehalten hätten. EU-Ausländer, die seit Langem in Großbritannien leben und dieses Land lieben, reiben sich verwundert die Augen. Und blicken zusehens sorgenvoll in eine ungewisse Zukunft.

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