Brexit-Experte im Interview

"Ich sehe gewaltige Probleme kommen"

Was bedeutet der Brexit für das britische Gesundheitswesen – und für deutsche Ärzte, die dort tätig sind? Das erklärt Reiner Meier, Mitglied der Arbeitsgruppe Brexit der Unionsfraktion, im Interview der "Ärzte Zeitung".

Anno FrickeVon Anno Fricke Veröffentlicht:

Ärzte Zeitung: Herr Meier, die Sozialsysteme in der EU sind nicht harmonisiert. Warum wird die Gesundheitspolitik beim Brexit dennoch zu einem wichtigen Thema?

Reiner Meier: Etwa 130.000 der 1,6 Millionen Beschäftigten im britischen Gesundheitssystem (National Health Service, NHS) kommen aus EU-Ländern. Davon sind 23.000 Ärzte. Wie viele genau davon wiederum aus Deutschland stammen, wissen wir derzeit nicht. Bei rund 130.000 deutschen Staatsbürgern in Großbritannien gehe ich aber von einer vierstelligen Zahl von Ärzten aus. Umgekehrt arbeiten lediglich 134 Ärzte aus Großbritannien in Deutschland. Das britische Gesundheitswesen ist in weitaus stärkerem Maß auf ausländisches Personal angewiesen als zum Beispiel das deutsche. Die Ausbildungskapazitäten reichen nicht aus, um den eigenen Bedarf zu decken.

Reiner Meier

- Aktuelle Position: Meier, Jahrgang 1953, ist seit 2013 Abgeordneter des Deutschen Bundestages; er ist zudem Mitglied im Gesundheitsausschuss und gehört der Arbeitsgruppe Brexit der Unionsfraktion an.

- Ausbildung: Studium an der Fachhochschule für öffentliche Verwaltung und Rechtspflege mit Abschluss zum Diplom- Verwaltungswirt (FH).

- Karriere: Bevor er in den Bundestag einzog, war Meier Regierungsamtsrat am Landratsamt Tirschenreuth. Von 2006 bis 2008 leitete er das Bundestagsabgeordnetenbüro von Horst Seehofer, bevor er Seehofer nach Bayern folgte und dort dessen Büro als CSU-Parteivorsitzender führte (bis 2012).

Wie nehmen die nichtbritischen Mitarbeiter des NHS den erklärten Austritt aus der EU auf?

Im Jahr des Brexit-Referendums haben über 17.000 EU-Mitarbeiter des NHS gekündigt. Das entspricht einer Steigerung um 30 Prozent gegenüber dem Vorjahr. Ich fürchte aber, damit ist das Ende der Fahnenstange noch nicht erreicht: Einer britischen Umfrage zufolge erwägen 40 Prozent der verbliebenen Ärzte und Pflegekräfte, das Land freiwillig zu verlassen. Das würde zu dramatischen Einschränkungen der Versorgung führen.

Wie können die EU-Ausländer unter Brexit-Bedingungen weiter im Gesundheitswesen des Vereinigten Königreichs arbeiten?

Um das zu beurteilen, muss man abwarten, welche Lösungen sich bei der Arbeitnehmerfreizügigkeit abzeichnen. Es darf nicht zu Ungerechtigkeiten kommen. Wir wollen eine generelle Freizügigkeitsregelung, wie sie besteht. Andernfalls könnten deutsch-britische Familien in schwere Turbulenzen geraten oder gar auseinandergerissen werden. Ein solches Szenario sollten wir auf jeden Fall vermeiden.

Im Moment kann jeder, der in einem EU-Land als Arzt approbiert wurde, in einem anderen EU-Land arbeiten. Was könnte sich für Angehörige der Gesundheitsberufe in Großbritannien mit dem Austritt ändern?

Wenn der Austritt in zwei Jahren wirksam wird, gibt es zunächst keine aktuelle Grundlage für die Anerkennung von Berufsabschlüssen deutscher Arbeitnehmer in Großbritannien mehr. Wir müssen daher die Vorschläge zur gegenseitigen Berufsanerkennung abwarten. Es könnte dazu kommen, dass deutsche Fachkräfte nicht mehr die erforderliche Qualifikation für eine Tätigkeit in Großbritannien hätten. Andererseits hat Großbritannien gerade im Hochschulbereich immer wieder großes Interesse an einer Fortsetzung bestehender Kooperationen gezeigt. Es sollte deshalb möglich sein, eine Einigung zumindest über wechselseitige Aus- und Weiterbildungsaufenthalte zu erreichen. Klar ist aber: Wir verhandeln ein umfassendes Austrittsabkommen. Sektorale Kleinabkommen würden diesem Ziel zuwiderlaufen.

Es gibt bestehende Arbeitsverträge. Würde das neu entstehende Recht das alte an dieser Stelle brechen?

Das ist die große juristische Frage. Wenn man sich nicht generell einigt, rücken die individuell getroffenen Vereinbarungen in den Fokus. Müssen dann Fristen eingezogen, Stichtagsregelungen getroffen werden? Es gibt verschiedene Denkmodelle. Im Falle eines harten Brexits könnte man noch an den Wegfall der Geschäftsgrundlage als allgemeinen Rechtssatz denken. Wie man es aber auch dreht und wendet: Es wird zu Verwerfungen und großer Rechtsunsicherheit kommen, ich sehe gewaltige Probleme.

Was geschieht mit den Ärzten aus Deutschland, die Wochenenddienste in Großbritannien schieben?

Die Lösung, Wochenenddienste mit Ärzten aus Deutschland und anderen Ländern zu erbringen, kommt die Briten mit ihrem staatlich finanzieren Gesundheitssystem günstiger, weil sie keine festen Anstellungsverhältnisse finanzieren müssen. Sie können stattdessen bedarfsgerecht pro Fall abrechnen. Auch an dieser Stelle kommt es darauf an, was aus der Arbeitnehmerfreizügigkeit wird. Obwohl die Brexit-Befürworter gerade die Arbeitsmigration begrenzen wollten, sehe ich nicht, wie der NHS von heute auf morgen auf alle EU-Ärzte verzichten kann.

Wie betrifft der Brexit die Gesundheitswirtschaft? Stichwort Protektionismus im Interesse der britischen Pharma- und Medizinprodukteindustrie statt freier Warenverkehr?

Da stehen eher praktische Fragen im Raum wie etwa die Nachwirkung von Bestandszulassungen durch die Europäische Arzneimittelagentur (EMA). Aktuell wären ja rein nach britischem Recht zugelassene Produkte auf dem europäischen Markt nicht verkehrsfähig. Ich bin für eine möglichst unbürokratische Anerkennungslösung. Dafür ist es aber erforderlich, dass britische Standards den europäischen entsprechen. Wir müssen ausschließen, dass die britische Seite durch eine freigiebigere Genehmigungspraxis den eigenen Wirtschaftsstandort auf Kosten und mit bindender Wirkung für die EU aufwertet.

Wohin in der EU sollte denn die EMA umziehen?

In London sitzen mit der EMA und der Europäischen Bankenaufsicht zwei europäische Behörden. Da sie ihren Sitz in einem EU-Mitgliedsstaat haben müssen, können sie dort nicht bleiben. Mehrere Länder haben schon Interesse an der EMA mit ihren 890 Mitarbeitern gezeigt. In Deutschland bewerben sich insbesondere Bonn, Frankfurt und München. Ich bin als Bayer natürlich für München. Am Ende ist aber wichtig, dass wir uns zügig auf einen deutschen Standort verständigen. Denn anderenfalls kommen andere Länder zum Zug, während wir uns noch mit unserem Föderalismus beschäftigen.

Wie ist die Agenda der Austrittsverhandlungen?

Realistisch gesehen stehen für die Verhandlungen lediglich 18 Monate zur Verfügung, da alle Abkommen in den Mitgliedsstaaten ratifiziert werden müssen. Ende April hat sich die EU mit großer Geschlossenheit auf das Verhandlungsmandat für den Brexit geeinigt. Seit Anfang Mai ist das britische Unterhaus aufgelöst. Für den 8. Juni hat Premierministerin Theresa May Neuwahlen angesetzt. Bis dahin wird nicht viel Konkretes passieren.

Lesen Sie dazu auch: England: Keine Trauminsel mehr für Ärzte

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