Stockender Brexit

"Abwarten und Teetrinken funktioniert nicht mehr"

Unser London-Korrespondent Arndt Striegler beobachtet die schleppenden Brexit-Verhandlungen hautnah vor Ort – und ist verwundert über das Verhalten der May-Regierung, während die Ärzte immer mehr in Panik verfallen.

Arndt StrieglerVon Arndt Striegler Veröffentlicht:

Bloggt für die "Ärzte Zeitung" aus London: Arndt Striegler.

LONDON. Es läuft gerade nicht gut hier in Großbritannien in Sachen Brexit. Regierungschefin Theresa May verabschiedete sich für einige Wochen in den Sommerurlaub: Wanderferien in Wales. Und Großbritanniens Chefunterhändler in Brüssel, David Davis, bevorzugt es offenbar, anstatt sich fest in Brüssel zu verankern, lieber morgens in London in den Eurostar-Zug zu steigen, um dann für kurze Zeit in Brüssel mit der EU-Kommission zu verhandeln, bevor er dann pünktlich zum Feierabend zurück nach London fährt.

Nicht nur in Brüssel reibt man sich verwundert die Augen angesichts einer derartigen Laissez-Fair-Einstellung. Immerhin geht es hier um die Zukunft von rund 60 Millionen Menschen in Großbritannien – von der Zukunft eines ganzen Kontinents ganz zu schweigen...

NHS in Angst

Der Brexit-Blog der "Ärzte Zeitung"

» Seit mehr als zwei Jahrzehnten berichtet Arndt Striegler für die „Ärzte Zeitung“ aus Großbritannien. Den Umbruch durch den Brexit spürt er am eigenen Leib – etwa als Patient im Gesundheitsdienst NHS.

» Die Versuchsanordnung ist einmalig: Ein von der Globalisierung geprägtes Gesundheitswesen soll renationalisiert werden. Das durchkreuzt Lebenspläne von Ärzten und Pflegekräften aus dem Ausland.

» Im Wochenrhythmus schildert Blogger Arndt Striegler, der seit 31 Jahren auf der Insel lebt, von nun an die politischen und kulturellen Folgen des Brexit.

Lesen Sie dazu auch: "EMA ohne die Briten? Nur schwer vorstellbar"

 

Wie auch immer: Fortschritte im Brexit-Poker gibt es bislang wenig. Und so wundert es nicht, dass besonders im staatlichen britischen Gesundheitsdienst (National Health Service, NHS) die Alarmglocken läuten.

Schließlich käme der britische Gesundheitsdienst ohne Ärzte, Krankenschwestern und –pfleger, Therapeuten und Hebammen, um nur einige Berufe zu nennen, nicht aus.

Das weiß man auch in der Downing Street. Das hat bislang aber nicht dazu geführt, endlich klare Ansagen zu machen, wie es nach März 2019, also dem Ausscheiden Großbritanniens aus der EU, in den Praxen und Kliniken weitergehen soll.

Fest steht: Schon heute verlassen hunderte Ärzte, Pflegekräfte und andere Gesundheitsberufe die Insel. Zu unsicher die Zukunft. Zu schlecht die Arbeitsbedingungen. Zu riskant, abzuwarten, ob die Regierung May ihr Versprechen einhalten wird (und kann), "the best possible deal" beim Brexit heraus zu holen. Laut aktueller Aktenlage darf dies getrost bezweifelt werden.

"Ernsthafte Gefahr für Rekrutierung"

Gerade meldete sich hier in London der oberste Inspektor der Kliniken des NHS, Professor Sir Mike Richards, zu Wort. Was der ansonsten eher zurückhaltende typisch-englische Gentleman seinen Landsleuten zu sagen hatte, ließ aufhören: "Qualifiziertes Personal ist für den Fortbestand und das Funktionieren des NHS absolut notwendig. Schon heute fehlt es an qualifizierten Ärzten und Pflegern. Und der Brexit ist eine sehr ernsthafte Gefahr für die Rekrutierung im NHS!"

Er sorge sich, da es bislang "kaum Anzeichen" gebe, dass die Londoner Regierung das Problem ernst nehme. Professor Richards spielt damit auf das Ziel Londons an, die freie Zuwanderung von Arbeitskräften aus der EU nach Großbritannien ab März 19 zu beenden. "Ohne ausländische Ärzte und Pflegekräfte würde der NHS nicht funktionieren", urteilt der britische Ärztebund (British Medical Association, BMA).

Die BMA ist ebenso wie dutzende andere medizinische Berufsverbände frustriert angesichts der mangelnden Fortschritte bei den Brexit-Verhandlungen mit Brüssel. "Es kommt ein Zeitpunkt, wo die typisch englische Einstellung des Abwartens und Teetrinkens nicht mehr funktioniert", sagte mir kürzlich ein Londoner Hausarzt.

Der Mann, der seit über 30 Jahren in London praktiziert, prüft ernsthaft, mit seiner Familie zurück nach Deutschland zu ziehen. Kein Einzelfall.

Immer mehrunbesetzte Stellen

Laut Londoner Gesundheitsministerium ist die Zahl der unbesetzt bleibenden Stellen im britischen Gesundheitswesen im ersten Quartal 2017 um zehn Prozent auf jetzt mehr als 86.000 Stellen gegenüber dem Vorjahr gestiegen. Jede dritte unbesetzte Stelle ist in der Krankenpflege.

Doch auch bei den Haus- und Klinikärzten gibt es Engpässe. Und diese sind maßgeblich Brexit-bedingt, wie Gespräche mit Experten zeigen.

Freilich, bislang hört man hier in London aus dem Gesundheitsministerium bestenfalls schöne Worte wie diese: "Wir schätzen die Qualifikationen und die Arbeit europäischer Ärzte und anderer Gesundheitsberufe hier in unserem NHS sehr. Deshalb haben wir immer wieder gesagt, dass es unsere Priorität ist, die Zukunft europäischer NHS-Beschäftigter auch nach dem Brexit sicher zu stellen."

Es wäre schön, wenn diesen sicher gut gemeinten Absichtserklärungen nun endlich auch Taten folgen würden. Ein guter Anfang wäre sicherlich, wenn Davis anstatt zwischen London und Brüssel zu pendeln, in den kommenden Wochen und Monaten mehr Zeit am EU-Verhandlungstisch verbringen würde.

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