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Sexuelle Belästigung – lange in französischen Kliniken nur ein Kavaliersdelikt

Im französischen Gesundheitswesen wurde lange nicht über sexuelle Belästigung gesprochen; Betroffene trauten sich aus Angst vor beruflichen Nachteilen nicht, die Vorfälle öffentlich zu machen. Nun berichtet selbst die Gesundheitsministerin von Übergriffen.

Denis Durand de BousingenVon Denis Durand de Bousingen Veröffentlicht:
Die französische Gesundheitsministerin und Ärztin Professor Agnès Buzyn hat öffentlich von Übergriffen berichtet.

Die französische Gesundheitsministerin und Ärztin Professor Agnès Buzyn hat öffentlich von Übergriffen berichtet.

© Julien Mattia / Le Pictorium / M

Der Skandal um den US-amerikanischen Filmproduzenten Harvey Weinstein hat weltweit eine Diskussion über sexuelle Belästigung, Vergewaltigung und Machtmissbrauch losgetreten. In sozialen Netzwerken berichten Frauen und auch Männer von ihren Erlebnissen mit Übergriffen und nutzen dafür den Hashtag #metoo. In Frankreich hingegen hat sich für Beiträge zu diesem Thema das deutlich offensivere Twitter-Schlagwort #BalanceTonPorc" (zu Deutsch etwa: "Schwärz‘ dein Schwein an") etabliert.

Nachdem sich in den vergangenen Wochen bereits viele prominente Französinnen öffentlich zu persönlichen Negativerfahrungen geäußert haben, hat der Aufschrei nun auch das französische Gesundheitswesen erreicht – und insbesondere auch Kliniken und Universitäten.

Vor einigen Tagen berichtete Gesundheitsministerin Professor Agnès Buzyn bei einem öffentlichen Vortrag, dass auch sie als junge Ärztin vor mehr als 20 Jahren Opfer von "völlig unpassendem Verhalten" ihrer Vorgesetzten wurde. So hätten Chefärzte die damalige Assistenzärztin zum Beispiel aufgefordert, "auf ihren Knien zu sitzen." Und nicht selten habe sie obszöne Scherze oder sexuelle Anspielungen ertragen müssen.

Klagen junger Ärztinnen landen selten vor Gericht

Dass derlei Verhalten in französischen Krankenhäuser besonders häufig ist, gilt seit langem als offenes Geheimnis. In den letzten Jahren haben sich junge Assistenzärztinnen mit Unterstützung ihrer Verbände gegen das Verhalten einiger männlicher Kollegen oder Professoren gewehrt. Nur selten landeten diese Klagen allerdings vor Gericht, auch wenn einige Ärzte intern bestraft wurden.

Wer genau hinsieht, entdeckt Sexismus vielerorts im Detail – auch ohne Worte und Gesten. So zum Beispiel die pornografisch anmutenden Fresken in Assistentendienstzimmern. Auch studentische und assistenzärztliche "Traditionen" schlagen in diese Kerbe. Vor allem die sogenannten "Bizutages" – Mutproben für neue Studenten und Studentinnen, einschließlich Praktikantinnen, die ohne Nacktheit und Alkohol unvorstellbar sind – wurden von Frauen schon häufig als sexistisch und brutal kritisiert.

Seit einigen Jahren werden solche Exzesse an den meisten Unis und Kliniken nicht mehr geduldet. Während viele junge Ärzte in sozialen Netzwerken einräumen, dass derlei Traditionen oft zu weit gegangen sind und sich für mehr Respekt aussprechen, halten andere das für übertrieben. Nicht alle sind bereit, vernünftiger und respektvoller zu feiern, und viele, darunter auch einige Ärztinnen, halten solche "heißen" Partys für ein gutes Mittel, um das stressige Berufsleben zu vergessen.

Vor einigen Monaten haben zwei Medizinstudentinnen die Tumblr-Seite "Paye ta blouse" (übersetzt etwa "Bezahl deine Bluse") gegründet. Dort können Studentinnen und Ärztinnen sexistische Scherze, unangenehme Bemerkungen und unangemessenes Verhalten ihrer Kollegen und vor allem ihrer Chefs veröffentlichen. Seit gut zwei Wochen werden dort und auf Facebook-Seiten täglich Dutzende von neuen Berichten publiziert, jedoch vorwiegend anonym und dadurch schwierig zu belegen.

Allerdings ist es wichtig, die Perspektive zu wahren. Viele ältere Ärztinnen, darunter auch eine praktische Ärztin, die ein Buch zum Thema Sexismus publiziert hat, weisen darauf hin, dass das Problem alles andere als neu ist. Die Zahl junger Ärztinnen, Schwestern, Schülerinnen, Praktikantinnen und Auszubildenden, die im Krankenhaus mit unangemessenen Berührungen, Aufstiegsangeboten im Tausch gegen Sex, Imponiergebärden und Drohungen konfrontiert wurden, ist nicht ermittelbar.

Schneller und strenger reagieren

Die Zeiten, da solches Verhalten als Kavaliersdelikt geduldet wurde, scheinen nun endgültig vorbei zu sein. Kürzlich gab der Leiter der Pariser Krankenhausverwaltung zu, dass die Großkliniken der französischen Hauptstadt viel zu lang weggeschaut hätten – auch wenn einige Krankenhausangestellte in den letzten Jahren aus genau diesen Gründen vom Dienst suspendiert wurden. Künftig will die Verwaltung schneller und strenger reagieren. Geplant ist eine umfassende Informations- und Aufklärungskampagne in öffentlichen Einrichtungen in Paris. Derlei Maßnahmen werden von Studentenorganisationen und Gewerkschaften begrüßt.

Ob sie ausreichen werden, bleibt abzuwarten. Viel zu oft trauen sich betroffene Frauen aus Angst vor beruflichen Folgen nicht, Übergriffe zu melden – denn häufig gibt es ja auch keine Beweise. Nur mit schärferen Gesetzen sowie einem stärkeren gesellschaftlichen Bewusstsein wird sich die Situation verbessern lassen, so der öffentliche Konsens. Das findet auch die Nationale Ärztekammer, die sich gegen Belästigung stärker einsetzen will.

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