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Klar ist nur die Verwirrung – Britannien ringt mit dem Brexit

Noch nicht einmal über das Wetter wollen die Briten mehr reden. Das politische Chaos in Regierung und Opposition bindet alle Aufmerksamkeit. Und die Uhr bis zum Brexit tickt. Derweil will die Winterkrise im nationalen Gesundheitsdienst kein Ende nehmen, schreibt unser Londoner Blogger Arndt Striegler.

Arndt StrieglerVon Arndt Striegler Veröffentlicht:
Bloggt für die "Ärzte Zeitung" regelmäßig aus London: Arndt Striegler.

Bloggt für die "Ärzte Zeitung" regelmäßig aus London: Arndt Striegler.

© privat

LONDON. In Großbritannien redet man bekanntlich gerne oft und ausgiebig über das Wetter. Doch wenn die Briten trotz des derzeit auf der Insel herrschenden bitteren Winterwetters nicht sofort enthusiastisch über Väterchen Frost reden, dann muss etwas wirklich Wichtiges passieren.

Und dem ist in der Tat so. Brexit auf allen Kanälen! Kein Tag vergeht, ohne dass nicht irgendein führender Politiker entweder der konservativen Regierungspartei oder der Opposition eine von Beobachtern als "wichtig" deklarierte Rede zum Austritt aus der EU hält. Was freilich oft noch paradoxer anmutet als eingangs erwähnte winterliche Wetterkapriolen.

Da behauptet Oppositionsführer Jeremy Corbyn allen Ernstes, Großbritannien könne auch nach dem EU-Austritt weiterhin Teil "einer" europäischen Zollunion bleiben, um so eine neue Grenze zwischen Nord-Irland (gehört zu Großbritannien) und der Republik Irland zu vermeiden. Corbyn möchte stattdessen "eine neue, umfassende Zollunion zwischen Großbritannien und der EU".

Und nein, genauer wolle er sich da derzeit noch nicht festlegen, wie solch eine "neue Zollunion" praktisch aussehen könne und was diese für wichtige EU-Prinzipien wie die Freizügigkeit im Personenverkehr und die Rechte von EU-Bürgern im Königreich bedeute.

Regierung ringt mit sich selbst

Und die Regierung? Sie verwickelt sich fast täglich in neue Widersprüche, wie das künftige Verhältnis zwischen der EU und Großbritannien nach dem Brexit aussehen soll. Auch dort gewinnt man den Eindruck, dass das Kabinett von Regierungschefin Theresa May nicht nur mit Brüssel um einen Brexit-Deal ringt, sondern mehr noch mit sich selbst.

Befürworter eines harten Brexit wie Außenminister Boris Johnson streiten sich öffentlich mit Verfechtern eines Soft-Brexit wie dem Schatzkanzler Philip Hammond. Kein Wunder, dass man in Brüssel die Hände über denn Köpfen zusammen schlägt. "Wir wissen nach wie vor nicht, wie sich Großbritannien sein künftiges Verhältnis mit der EU konkret vorstellt", resümierte vor wenigen Tagen Brüssels Chef-Unterhändler Michel Barnier.

Natürlich freue man sich über öffentliche Reden von britischer Seite. "Wichtiger wäre es aber, auch in Brüssel sehr präzise deutlich zu machen, worum es konkret geht", sagt der deutsche Europastaatminister Michael Roth am Rande der EU-Beratungen zum Thema Brexit in Brüssel. Klar ist, dass man nicht nur in Brüssel, sondern auch in Berlin, Paris und anderen europäischen Hauptstädten zusehens die Geduld mit London verliert. "Bitte keine neuen Reden mehr, Frau May", appellierte kürzlich ein irischer Minister an London. Stattdessen wünsche man sich endlich konkrete Verhandlungsvorschläge und eine klare Position.

Klarheit in der Downing Street?

Denn die Zeit bis zum Brexit-Stichtag Ende März 2019 drängt. Ende März wollen die EU-Staaten Verhandlungsleitlinien beschließen und sich daran orientieren, welche Position die Briten bis dahin formuliert haben – doch diese fehlen nach wie vor. Ich bin längst nicht der einzige Londoner Auslandskorrespondent, der bezweifelt, dass diese dringend benötigte Klarheit jemals von Downing Street geschaffen wird.

Appelle kamen in den vergangenen Tagen auch aus der britischen Wirtschaft, endlich konkrete und realistische Vorschläge auf den Verhandlungstisch zu legen. Viele Firmen in Großbritannien zögern laut Unternehmerverband mit Investitionen, solange nicht klar ist, was der Brexit wirtschaftlich für sie bedeute.

Jüngste Reden von AfD-Politikern im Deutschen Bundestag, wonach der Brexit angeblich "wirtschaftlich große Vorteile" für das Königreich bringen werde, wurden von der überwiegend Anti-EU eingestellten britischen Boulevardpresse sofort aufgegriffen. Die auflagenstarke Boulevardzeitung "Sun" unterstellte Bundeskanzlerin Merkel gar, sie drohe Großbritannien, wolle das Land für den Brexit "hart bestrafen". Anti-europäische Rhetorik gehört in Großbritannien in diesen Tagen zur Tagesordnung.

Ich aber frage mich: Wo soll das enden? Schon jetzt müssen sich polnische und bulgarische Bürger Beschimpfungen und Diffamierungen anhören. Ich habe in diesem Blog bereits mehrfach geschrieben: Ich erkenne dieses Land, in dem ich seit nunmehr 32 Jahren lebe und arbeite, nicht mehr wieder!

Währenddessen tobt im staatlichen britischen Gesundheitsdienst (National Health Service, NHS) weiter munter das Winterchaos mit tausenden kurzfristig gestrichenen Operationen, zwölfstündigen Wartezeiten in den Notaufnahmen der staatlichen Krankenhäuser und Stationen, die so überbelegt sind, dass selbst Schwerkranke in Notbetten auf den Fluren untergebracht werden müssen.

Abgearbeitet und müde

In einem Wort: Traurig, was sich da gerade im Gesundheitsdienst abspielt. Wie groß die Not in den Praxen und auf den Stationen derzeit wirklich ist, konnte ich vor wenigen Tagen am eigenen Leib erfahren, als ich zu einer Routineuntersuchung ins Londoner St. Thomas Hospital ging. Meine für 15 Uhr anberaumte fachärztliche Konsultation fand schließlich um kurz vor 18 Uhr statt. Der Arzt – ein von einer Arbeitsvermittlungsagentur geschickter Mediziner, den ich vorher noch nie dort gesehen habe – wirkte übermüdet und hatte dunkle Ringe unter den Augen.

In der Regel nutze ich solche Begegnungen gerne, um nach meiner Konsultation noch einige Worte mit dem Arzt über Themen wie zum Beispiel den Brexit und was dieser für seine persönliche Lebens- und Arbeitssituation bedeuten wird, zu wechseln. Doch der arme Mann sah so überarbeitet aus, dass ich mich nur kurz bei ihm bedankte und verabschiedete.

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