Ein anderer Blick

Warum die "Ökonomisierung der Medizin" nicht unbedingt schlecht ist

"Böse" Pharmaunternehmen und Patientenabarbeitung am Fließband- Oft schlägt unserem Gesundheitssystem zwei Vorwürfe entgegen: Ökonomisierung und Kommerzialisierung. Doch sind das tatsächlich nur schlechte Eigenschaften?

Helmut LaschetVon Helmut Laschet Veröffentlicht:
Mit einer Wertschöpfung von 324 Milliarden Euro und 6,8 Millionen Beschäftigten ist die Gesundheitswirtschaft inzwischen die größte Branche in Deutschland: Sind "Ökonomie" und "Kommerz" berechtigte Vorwürfe gegen sie?

Mit einer Wertschöpfung von 324 Milliarden Euro und 6,8 Millionen Beschäftigten ist die Gesundheitswirtschaft inzwischen die größte Branche in Deutschland: Sind "Ökonomie" und "Kommerz" berechtigte Vorwürfe gegen sie?

© R. Emprechtinger / fotolia.com

"Ökonomisierung der Medizin": Das ist in den letzten Jahren zu einem Schlagwort mit Kampagnencharakter geworden. Medizin und Patientenversorgung seien "ökonomisiert" und "kommerzialisiert" worden.

Tatsächlich ist es gelungen, den ursprünglich wertfreien Begriffen "Ökonomie" und "Kommerz" (gleich Handel) Negativ-Konnotationen beizufügen, sodass es derzeit kaum möglich ist, ohne Empörungszustände über Medizin und ihre wirtschaftlichen Implikationen zu diskutieren.

Ärzte als knappe Ressourcen

Trotzdem ein Versuch! Zur Patientenversorgung: Längst erleben kranke Menschen Ärzte und Pflegeberufe als knappe Ressourcen, nicht beliebig verfügbar, und wenn, dann nicht selten unter Zeitdruck. Das ist eine typisch ökonomische Problemstellung: Knappheit, die eine Suche nach effizienterer Produktion auslöst. Oder nach gezielter Indikationsstellung.

Die Methoden der Ökonomie sind dabei stets formal – werden sie nicht durch medizinische Inhalte angereichert, bleiben sie hohl und ohne Aussagekraft.

Das geschieht auch bei der frühen Nutzenbewertung für Arzneimittel: ermittelt wird ein therapeutischer Zusatznutzen im Vergleich zum Standard als ein Anhaltspunkt dafür, wie viel Geld zusätzlich für eine Innovation ausgegeben werden könnte. Auch hier: Ohne medizinischen Input gäbe es keine Lösung für die Praxis.

Choose wisely, jetzt auch in der Medizin

In der Medizin setzt sich inzwischen eine Kultur durch, die dem hektischen Aktionismus von früher Grenzen setzt: Choosing wisely ist ein prominentes Beispiel dafür. Formal ist dies ein ökonomisches Prinzip, das seinen Wert aber erst durch medizinische Inhalte gewinnt.

Das ist die eine Seite der Medaille: die Suche nach einer gezielten Patientenversorgung unter dem immerwährenden Diktat knapper Ressourcen und deren alternativer Verwendungsmöglichkeiten.

Es existiert auch eine andere Seite der Ökonomisierung der Medizin, die ebenfalls mit einer Negativ-Konnation bedacht worden ist: ihre Eigenschaft als Gesundheitswirtschaft. In Wirklichkeit besagt dies nichts anderes, als dass die Menschen, die in der medizinischen und pflegerischen Versorgung arbeiten, damit auch ihren Lebensunterhalt verdienen. Und dass moderne Medizin Kapital und Infrastruktur braucht, was Investitionen und Aussicht auf Rendite erfordert.

Aufgrund des Volumens der Geldbeträge, die das Gesundheitswesen absorbiert, aber auch wieder abgibt, entstehen beachtliche gesamtwirtschaftliche Effekte, die den Wohlstand in Deutschland beeinflussen. Diesen Aspekt hat das Bundeswirtschaftsministerium in den vergangenen Jahren durch systematische Untersuchungen dargestellt und eine wichtige Ergänzung zur traditionellen sozialpolitischen Sichtweise etwa des Bundesgesundheitsministeriums geleistet.

Medizin als Wachstumstreiber und Wirtschaftsstabilisator

Die Fakten sind beeindruckend. So ist die Bruttowertschöpfung der Gesundheitswirtschaft zwischen 2004 und 2015 um fast 50 Prozent auf 324 Milliarden Euro gestiegen, der Anteil an der gesamtwirtschaftlichen Wertschöpfung von 10,6 auf zwölf Prozent. Im Jahresdurchschnitt wuchs die Gesundheitswirtschaft um 3,5 Prozent, die Gesamtwirtschaft schaffte es gerade auf 2,4 Prozent.

Die Dynamik der Gesundheitsversorgung ist dabei von Kontinuität geprägt und weist - im Unterschied zu anderen Branchen - eine hohe Robustheit gegen konjunkturelle Risiken auf: Brach die gesamtwirtschaftliche Wertschöpfung im Krisenjahr 2009 um 4,2 Prozent ein, so schaffte die Gesundheitswirtschaft ein Plus von 2,2 Prozent.

Das ist von Bedeutung, denn mit ihrem hohen Gewicht kann die Gesundheitswirtschaft den Rest der Volkswirtschaft durchaus stabilisieren und eine Pufferwirkung gegen konjunkturelle Volatilitäten entfalten.

Überproportional war die Gesundheitswirtschaft in den vergangenen zehn Jahren am Aufbau der Beschäftigung in Deutschland beteiligt: insgesamt sind in der Branche 900.000 neue Arbeitsplätze entstanden, insgesamt 6,9 Millionen Menschen stehen in Lohn und Brot. Fast 16 Prozent aller Beschäftigten in Deutschland haben in ihrem Job mit der Gesundheit zu tun. Und diese Arbeitsplätze sind sicher und werden in einer alternden Gesellschaft zahlenmäßig weiter wachsen.

Dienstleistungen machen fast drei Viertel des Umsatzes aus

Wer kriegt was in der Gesundheitswirtschaft? Absolut dominierend sind Dienstleistungen: Das sind die Praxen niedergelassener Ärzte und Zahnärzte, die Krankenhäuser, die ambulante und stationäre Pflege, auf die gut 73 Prozent der Wertschöpfung entfallen.

Lediglich 12,8 Prozent entfallen auf "Produktion": Das sind im Wesentlichen die Leistungen der Pharma- und Medizintechnik-Industrie, deren Anteil über die Jahre ziemlich konstant bleibt. Der Rest von knapp zehn Prozent entfällt auf den Handel, etwa Apotheken.

In der Öffentlichkeit wird derzeit - mit Blick auf die Preise innovativer Arzneimittel - eine von Empörung begleitete Debatte aufgeführt, die sich nicht zuletzt auch aus der Sorge um die Finanzstabilität der Krankenkassen und der Furcht vor einem Verteilungskonflikt speist.

Natürlich: Aus der Individualperspektive eines Arztes oder Patienten erscheinen Jahrestherapiekosten von 50.000, manchmal über 100.000 Euro mit neuen Arzneimitteln unerklärlich, ja sogar verwerflich, auf jeden Fall gefährlich.

Bei der globalen Betrachtung relativiert sich das: Denn angesichts der Gewichtsverteilung zwischen Dienstleistungs- und Industriesektor im Gesundheitswesen ist das Risiko einer destabilisierenden Wirkung der Umsatzdynamik von Arzneimittelinnovationen gering. Die Furcht der Ärzte vor einem Verteilungskonflikt spielt sich in einem insgesamt dynamischen Markt in Wirklichkeit hinter dem Komma der prozentualen Marktanteile ab.

Pharmaindustrie hat Wertschöpfung von nicht einmal sechs Prozent

So erreichte die Bruttowertschöpfung der Pharma-Industrie am Standort Deutschland einen Wert von 18 Milliarden Euro, das ist ein Anteil von 5,5 Prozent an der Gesamtwertschöpfung der Gesundheitswirtschaft. Dieser wiederum schwankte in den vergangenen zehn Jahren zwischen 4,9 und 5,7 Prozent.

Zugleich aber stammen 45 Prozent aller Exporte der deutschen Gesundheitswirtschaft aus den Produktionsstätten der pharmazeutischen Industrie und wirken insofern wohlfahrtsteigernd. Dem stehen allerdings auch steigende Importzahlen insbesondere bei neuen Arzneimitteln gegenüber.

Wie wichtig Produktionsstandorte der Industrie in Deutschland sein können, lässt sich am Beispiel von Frankfurt zeigen: Hier produziert Sanofi in seiner Gentechnik-Anlage das Analog-Insulin Lantus, der weltweite Umsatz damit beläuft sich auf 6,4 Milliarden Euro. Nur etwa drei Prozent davon entfallen auf den deutschen Markt, dessen Preise allerdings weltweit Signalfunktion haben.

Betrachtet man alle öffentlichen Kassen zusammen - also neben der GKV insbesondere auch die steuerfinanzierten Haushalte von Bund, Ländern und Kommunen sowie die anderen Sozialversicherungszweige, dann zeigt sich, dass Vorteile der Krankenversicherung durch Rabattpolitik, durch Effekte auf Steuern und andere Versicherungsbeiträge schnell überkompensiert werden können.

In Frankfurt jedenfalls ist Sanofi der bei weitem wichtigste Steuerzahler, der dem Stadtkämmerer mehr Geld einbringt als der gesamte Finanzsektor.

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