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Einwanderung nach dem Brexit: Die neue Klassengesellschaft

Die britische Regierung lässt erstmals erkennen, wie sie sich Einwanderung nach dem EU-Austritt vorstellt. Wirtschaftsverbände reagieren auf die geplante Abschottungspolitik entsetzt.

Arndt StrieglerVon Arndt Striegler Veröffentlicht:
Bloggt für die "Ärzte Zeitung" aus London: Arndt Striegler.

Bloggt für die "Ärzte Zeitung" aus London: Arndt Striegler.

© privat

LONDON. Wenn Großbritannien am 29. März 2019 aus der Europäischen Union austritt, dann werden aller Voraussicht nach nicht nur britische Häfen und Flughäfen logistische Probleme bekommen, sondern auch Krankenhäuser, Arztpraxen und ambulante Pflegeeinrichtungen und -dienste.

Die logistischen Probleme auf den Flughäfen und in den Seehäfen dürften durch einen Mangel an klaren Bestimmungen verursacht werden, wie nach dem EU-Austritt mit Waren aus anderen EU-Ländern umzugehen ist. Einfuhrzoll? Wenn ja, wie viel? Und wer soll sich um den zusätzlichen Papierkram kümmern, der dann anfällt? Auf diese und andere Fragen kann London bisher keine schlüssigen Antworten geben.

Der Brexit-Blog der "Ärzte Zeitung"

» Seit mehr als zwei Jahrzehnten berichtet Arndt Striegler für die „Ärzte Zeitung“ aus Großbritannien. Den Umbruch durch den Brexit spürt er am eigenen Leib – etwa als Patient im Gesundheitsdienst NHS.

» Die Versuchsanordnung ist einmalig: Ein von der Globalisierung geprägtes Gesundheitswesen soll renationalisiert werden. Das durchkreuzt Lebenspläne von Ärzten und Pflegekräften aus dem Ausland.

» Im Wochenrhythmus schildert Blogger Arndt Striegler, der seit 31 Jahren auf der Insel lebt, von nun an die politischen und kulturellen Folgen des Brexit.

» Lesen Sie dazu auch: Krank in London?

Freilich: Noch schlimmer als das sich abzeichnende Chaos im britisch-europäischen Warenverkehr könnte die Personalversorgung im britischen Gesundheitsdienst werden. Und das sorgt in England die Klinikmanager und Chefärzte besonders. Aktueller Anlass ist ein der britischen Presse zugespieltes und als "vertraulich" deklariertes Positionspapier der Regierung May zum Thema Einwanderung nach dem Brexit.

Angst machende Lektüre

Darin wird erstmals konkret gesagt, wie Großbritannien nach der Scheidung von der EU mit deutschen, französischen, schwedischen und anderen europäischen Arbeitnehmern umzugehen gedenkt. Und die Lektüre macht einem Angst!

So soll am 29. März 2019 kein EU-Bürger mehr ins Land dürfen, um hier zu arbeiten, ohne dass er oder sie vorher von der britischen Regierung das OK dafür bekommt. London stellt sich eine Art Klassensystem je nach beruflicher Qualifikation und Lebensumständen des EU-Arbeitnehmers vor. Je besser qualifiziert, desto länger soll dem Bewerber eine Aufenthalts- und Arbeitsgenehmigung ausgestellt werden.

Beispiel: Fabrikarbeiter oder Erntehelfer etwa, die derzeit freizügig jeden Sommer zu tausenden aus Ost-Europa nach Großbritannien kommen, um hier zu schuften, werden "maximal ein bis zwei Jahre" Aufenthaltsgenehmigung erhalten. Danach müssen sie das Land wieder verlassen.

Ausländisches Krankenpflegepersonal dürfte vom 29. März 2019 an zwar etwas gnädiger behandelt werden und mit einer Arbeits- und Aufenthaltsgenehmigung von "um die fünf Jahre" rechnen dürfen. Sicher ist das freilich nicht und das führt weiterhin dazu, dass den britischen Kliniken besonders im staatlichen Gesundheitsdienst (National Health Service, NHS) die Pflegekräfte abhanden kommen. Einige NHS-Kliniken sprechen bereits jetzt, noch vor Beginn der Wintersaison, von "schlimmen Personalengpässen". Reaktion aus der Downing Street: Funkstille.

Job in Deutschland als Alternative

"Ganz ehrlich, ich möchte nicht länger Teil einer Gesellschaft sein, die sich derart strikt nach außen abschirmt", sagte mir in dieser Woche ein befreundeter Allgemeinarzt aus London, der seit über zehn Jahren im NHS arbeitet und bislang immer einen zufriedenen Eindruck machte. "Ich habe mich nach einer Stelle in Deutschland umgeschaut."

Der Mann will weg. Genau wie tausende andere EU-Bürger in Großbritannien auch, die sich nicht länger wohlfühlen in einem Land, in dem Fremdenfeindlichkeit und Misstrauen gegenüber allem, was nicht britisch ist, zunimmt.

In der Hauptstadt London allein leben und arbeiten derzeit rund 700.000 EU-Bürger. Ohne sie würde in Krankenhäusern, Arztpraxen, Therapiezentren ebenso wenig laufen wie in Bereichen wie der Gastronomie, dem Bau oder im Transportwesen. Polen bauen die Häuser, viele Barristas in den Coffee Shops kommen aus Italien und jeder, der schon einmal in einem Londoner Krankenhaus war, weiß, dass die Pflegekraft wahrscheinlich eher aus Sofia oder Andalusien kommt, als aus Liverpool.

"Wirtschaftlche Selbstverstümmelung"

Als einen "beispiellosen Akt der wirtschaftlichen Selbstverstümmelung" bezeichneten britische Wirtschaftsverbände das Positionspapier zum Thema Einwanderung nach dem Brexit. EU-Arbeitnehmer seien unverzichtbarer Bestandteil der britischen Wirtschaft und steuerten jährlich "Billionen" zum Wohlstand auf der Insel bei.

Und auch der britische Ärztebund (British Medical Association, BMA) hielt nicht lange mit seiner Meinung zu den Gedankenspielen der Regierung hinterm Berg: "Es ist ein katastrophaler Fehler, künftig auf die Anwerbung von EU-Gesundheitsberufen zu verzichten", sagte BMA-Sprecher Dr. Andrew Dearden. "Wir brauchen europäische Ärzte, Pfleger und anderes Personal. Ohne sie würde unser Gesundheitsdienst nicht funktionieren." Mahnungen wie diese verhallen bisher in den Fluren des Londoner Regierungsviertels Whitehall ungehört.

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