Arndt Striegler bloggt

Ärzte als Verhandlungsmasser im Brexit-Poker?

Die gegenseitige Anerkennung von Qualifikationen ist nur ein Mosaikstein im komplexen Brexit-Poker. Doch im britischen Gesundheitswesen ist diese Frage für die Zeit nach März 2019 sehr wichtig. Zeitungen in Großbritannien wittern politische Erpressung.

Arndt StrieglerVon Arndt Striegler Veröffentlicht:
Bloggt für die "Ärzte Zeitung" aus London: Arndt Striegler.

Bloggt für die "Ärzte Zeitung" aus London: Arndt Striegler.

© privat

LONDON. Es gibt Neuigkeiten aus den Verhandlungsrunden zum Brexit –  doch es ist fraglich, ob sie Ärzte, Krankenschwestern und -pfleger und andere Heilberufler froh stimmen, und zwar weder in Großbritannien noch in der restlichen EU.

Wie am Rande der jüngsten Verhandlungsrunde zwischen London und Brüssel bekannt wurde, ist zum Beispiel unklar, ob nach dem Austritt Großbritanniens aus der EU im März 2019 berufliche Qualifikationen in Heilberufen, die nach dem britischen Goodbye erlangt werden, weiterhin gegenseitig anerkannt werden oder nicht.

Der Brexit-Blog der "Ärzte Zeitung"

» Seit über 20 Jahren berichtet Arndt Striegler für die „Ärzte Zeitung“ aus Großbritannien. Den Umbruch durch den Brexit spürt er am eigenen Leib – etwa als Patient im Gesundheitsdienst NHS.

» Die Versuchsanordnung ist einmalig: Ein von der Globalisierung geprägtes Gesundheitswesen soll renationalisiert werden. Das durchkreuzt Lebenspläne von Ärzten und Pflegekräften aus dem Ausland.

» Im Wochenrhythmus schildert Blogger Arndt Striegler, der seit 31 Jahren auf der Insel lebt, von nun an die politischen und kulturellen Folgen des Brexit.

» Lesen Sie dazu auch: Brexit ohne Vertrag? Nichts für NHS-Angestellte!

"Das hat bei uns die Alarmglocken läuten lassen", sagte mir jetzt ein befreundeter Londoner Klinikarzt, der sich privat auch politisch engagiert und der den Brexit-Poker genau beobachtet. "Das trägt zur ohnehin schon sehr großen Verunsicherung von Ärzten, Krankenschwestern und -pflegern und anderen Berufsgruppen im Gesundheitswesen bei."

Die britischen Medien wittern bereits neues Ungemach. Brüssel benutze Ärzte und andere Berufsgruppen als Verhandlungsmasse, um mehr Geld und mehr Zugeständnisse von Großbritannien zu erzwingen, urteilte beispielsweise die große Londoner Abendzeitung "Evening Standard". Und: "Das ist unfair!"

Es fehlt an festen Garantien

Freilich: "Es war Großbritannien, das sich monatelang weigerte, klipp und klar zu sagen, was mit den mehr als drei Millionen EU-Bürgern, die derzeit in Großbritannien leben und arbeiten, nach dem Brexit passieren wird", stellte mein Arzt-Freund dazu nur trocken fest. "Soweit ich weiß, ist das immer noch nicht klar! Das ist höchst unfair und falsch."

Natürlich hat der Mann recht. Obwohl das staatliche britische Gesundheitswesen (National Health Service, NHS) nicht ohne Ärzte und Pflegepersonal aus der EU auskäme, weigert sich Premierministerin Theresa May beharrlich, konkrete Garantien zu geben, dass EU-Bürger auch nach dem britischen EU-Austritt weiter im Land leben und arbeiten dürfen.

Kein Wunder, dass Ärzte verunsichert sind. Kein Wunder auch, dass immer mehr entweder gleich ihre Koffer packen, um das Land ganz zu verlassen, oder zumindest konkrete Pläne in diese Richtung hin schmieden.

Der britische Ärztebund (British Medical Association, BMA) fragte kürzlich seine Mitglieder über die bisherigen Folgen des Brexit-Votums vom Juni 2016. Die Ergebnisse überraschen nicht. Jeder fünfte von der BMA befragte Arzt in Großbritannien berichtete, dass Stellenbewerbungen aus anderen EU-Ländern rückläufig sind. Die Zahl der Ärzte, die dies beobachten, steigt laut BMA weiter. Und auch die Zahl jener EU-Ärztinnen und Ärzte, die Großbritannien ganz verlassen, steigt. Die BMA befragt alle drei Monate rund 1000 in Großbritannien praktizierende Mediziner nach ihrer Meinung.

Zweckoptimismus der Verbände

Die ärztlichen Berufsorganisationen in Großbritannien wie die BMA bemühen sich in diesen unsicheren Zeiten zwar, Optimismus zu verbreiten und Nerven zu beruhigen. "Wir hoffen, dass die gegenseitige Anerkennung beruflicher Qualifikationen zwischen der EU und Großbritannien schon bald in beidseitigem Interesse neu und vernünftig und kulant geregelt wird", heißt es bei der BMA in London. Hinter den Verhandlungskulissen wirken Berufsverbände wie die BMA derzeit unermüdlich, um die Austrittsverhandlungen voranzubringen. Was – beobachtet man die zähen und bescheidenen Fortschritte – sehr frustrierend sein muss.

 Die Frage, ob berufliche Qualifikationen aus anderen EU-Ländern auch nach dem März 2019 in Großbritannien anerkannt werden und umgekehrt, ist laut BMA eine der am häufigsten gestellten Fragen von Ärzten überhaupt. Rund 60.000 NHS-Bedienstete sind derzeit EU-Bürger und wissen nicht, wie es nach März 2019 weitergehen soll und wird.

Genau diese Unsicherheiten sind es, die immer mehr Unternehmen in Großbritannien dazu veranlassen, ihre Produktionsstätten und Verwaltungen auf den Kontinent zu verlegen. Jüngst gab Unilever bekannt, man werde als Folge des Brexit hunderte Arbeitsplätze in Großbritannien abbauen, um diese dann in den Niederlanden neu auszuschreiben. Längst kein Einzelfall. Auch Banken, Broker und andere für die britische Volkswirtschaft wichtige Unternehmen sind gerade dabei, sich stärker in Richtung Kontinent umzuschauen.

Hohe Extrakosten erwartet

Und – als wäre all dies noch nicht schlimm genug – es wurde gerade bekannt, dass der Brexit den NHS "bis zu 500 Millionen Pfund" (rund 550 Millionen Euro) jährlich kosten könnte, sollte es nicht schleunigst gelingen, den Zugang zu Gesundheitsleistungen nach dem Austritt zu regeln. Laut der britischen Organisation "Brexit Health Alliance", die dem NHS nahe steht, kämen auf das britische Gesundheitswesen hohe Extrakosten zu, weil nach März 2019 weder die European Health Insurance Card (EHIC), noch andere, vergleichbare Abmachungen zwischen der EU und Großbritannien gültig blieben. Allein in Spanien leben mehr als 300.000 Briten, die derzeit medizinisch von Spanien versorgt werden.

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