Arndt Striegler bloggt

Oh, Britannia! Was hat der "Brexismus" aus dir gemacht?

Von wegen Tea Time, Queen und Linksverkehr: Nicht nur der Blick der Briten auf die EU hat sich geändert. Umgekehrt blicken auch Menschen weit außerhalb Europas inzwischen mit Unverständnis auf die Insel. Die einst positiven Attribute, die mit Großbritannien verbunden wurden, sind im Wandel. Auch das eine Folge des "Brexismus", schreibt Arndt Striegler, unser Blogger aus London.

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Korrespondent Arndt Striegler berichtet schon seit fast 20 Jahren für die "Ärzte Zeitung" aus London.

Korrespondent Arndt Striegler berichtet schon seit fast 20 Jahren für die "Ärzte Zeitung" aus London.

© privat

LONDON. Was fällt Ihnen, liebe Leser, als erstes ein, wenn Sie das Wort "England" oder "Großbritannien" hören? Als ich diese Frage kürzlich meiner in Schweden lebenden Familie stellte, war ich – gelinde gesagt – geschockt über die Antworten: "Egoistisch" "wankelmütig", "unzuverlässig", "nicht vertrauenswürdig" – so sehen meine Lieben also jenes Land, in dem ich als Deutscher und EU-Bürger seit 32 Jahren lebe.

Hätte ich dieselbe Frage vor zwei Jahren gestellt, wären die Antworten vermutlich deutlich anders ausgefallen: Tea Time, die Queen, Linksverkehr. Einzig das "schlechte Wetter" wäre damals vermutlich als negatives Attribut in die Liste aufgenommen worden. Wie sich die Zeiten seitdem doch geändert haben.

Gesundheitswesen spürt den Brexit

Dass der Brexit den Inselstaat nachhaltig verändern würde, war jedem aufgeweckten Zeitgenossen von Beginn an klar. Nirgendwo mehr sind die Folgen der historischen Absage an Europa deutlicher zu spüren als im britischen Gesundheitswesen. Landauf, landab klagen Klinikverwaltungen und Gesundheitsbehörden zusehens lauter über einen Mangel an qualifiziertem Pflegepersonal. Auch Ärzte werden anscheinend zumindest in einigen Landesteilen zusehens knapper.

Die Lücken im ärztlichen Versorgungsnetz, die bislang nicht selten von Ärzten aus der EU, die für befristete Vertretungsdienste nach Großbritannien kamen, kompensiert wurden, können inzwischen nicht immer mehr gestopft werden. Was wenig wundert – zu groß die Unsicherheit, wie es in Großbritannien und im staatlichen Gesundheitsdienst (National Health Service, NHS) nach dem EU-Austritt im März 2019 weitergehen wird.

Kluge Köpfe wie der Literaturwissenschaftler Professor Rüdiger Görner, der an der Queen Mary Universität in London lehrt und forscht, nennt dieses Phänomen "Brexismus". Und "Brexismus", das ist inzwischen nur allzu evident, schadet dem britischen Gesundheitswesen. Professor Görner vergleicht den im Königreich grassierenden "Brexismus" daher ironisch mit einer ansteckenden Krankheit, die inzwischen alle Landesteile und Bevölkerungsschichten inklusive der Regierung unter Theresa May befallen habe. Wobei der Wissenschaftler zu bedenken gibt: "Die Lage ist mittlerweile zu ernst für bloße Ironie. Zuviel steht auf dem Spiel." Indeed, möchte man hinzufügen.

Ich rede in diesen Tagen viel mit Freunden und Kollegen in England über das Thema Brexit. Jene Freunde und Bekannte, die im Gesundheitswesen arbeiten oder die über Dritte mit dem NHS in Verbindung stehen, berichten von desolaten Zuständen. Überfüllte Wartezimmer, tagelanges Warten auf eine hausärztliche Konsultation, Kranke auf Rollbetten in den Fluren der staatlichen Kliniken und hängende Köpfe beim Personal angesichts dieser traurigen Zustände.

Wobei man fairerweise sagen muss, dass der NHS seit langem kränkelt. Doch "dank" Brexit ist das Kränkeln zu einer schweren Krankheit mutiert, die noch dazu andere Gesellschafts- und Wirtschaftsbereiche anzustecken scheint.

Von der Lokomotive zum Bremser

So korrigierte kürzlich das Office for Budget Responsibility (OBR) seine Wachstumsprognosen für die britische Wirtschaft abermals nach unten. Hatten die Gutachter im November 2015, also vor dem Brexit-Referendum, für die Jahre 2016 bis 2020 noch ein solides reales Wirtschaftswachstum von 2,3 bis 2,5 Prozent pro Jahr prognostiziert, sehen die Zahlen aktuell düsterer aus: Zurzeit prognostiziert das OBR für 2017 nur noch ein reales BIP-Wachstum von 1,5 Prozent, für 2018 von 1,4 Prozent und für die beiden Folgejahre von 1,3 Prozent. Das ist weniger als in der übrigen EU. Vor dem Volksentscheid war es umgekehrt: Britannien florierte wirtschaftlich, die EU humpelte hinterher.

Je schleppender die Wirtschaft, desto knapper das Geld, welches in die Kliniken und Praxen investiert werden kann. Die Zustände in Kliniken und Praxen zu Beginn dieses Winters sind bereits höchst unbefriedigend. Wenn jetzt vom britischen Schatzkanzler der Geldhahn auch nur um einen Millimeter weiter zugedreht wird – nicht auszudenken, wie es dann im NHS aussehen wird. In seiner Haushaltsrede stellte Philip Hammond zwar drei Milliarden Pfund (etwas mehr als drei Milliarden Euro) für den Fall eines ungeordneten Brexit in Aussicht – für den NHS freilich blieb kaum noch etwas übrig.

Genervt über immer neue Winkelzüge

Zurück zu meiner Familie in Schweden, die das Brexit-Drama seit langem aus der Ferne beobachtet. Was mir bei meinem Besuch in Stockholm deutlich wurde, ist, wie sehr sich in den vergangenen Monaten die Sichtweise in Europas auf Großbritannien verändert hat. Nicht nur meine Verwandten reagieren zusehens genervt angesichts immer neuer Winkelzüge Londons.

Gleiches fiel mir kürzlich auch bei einem Besuch in Berlin auf. Als ich dort in einem Restaurant zufällig mit Touristen aus den USA und Australien ins Gespräch kam, war schnell klar, dass auch dort das Image Großbritanniens ernstlich Schaden genommen hat. Selbst die Australier, mit denen ich länger über Brexit und Europa reden konnte, zeigten wenig Verständnis für die britische Bizarr-Diplomatie einer Theresa May und – schlimmer – ihres inkompetenten Außenministers Boris Johnson. Das gibt zu denken.

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