Brexit-Blog

"Wir hängen in der Luft" — Willkommen in der Brexit-Selbsthilfegruppe!

Mit anderen Betroffenen über den bevorstehenden Brexit zu sprechen fühlt sich für ÄZ-Korrespondent Arndt Striegler an wie die Teilnahme an einer Selbsthilfegruppe. Die Unsicherheit, was mit den EU-Bürgern 2019 passiert, frustriert ihn zunehmend.

Arndt StrieglerVon Arndt Striegler Veröffentlicht:
Vom Brexit betroffene EU-Bürger fühlen sich mittlerweile manches Mal wie Schachfiguren beim Strategiespiel um einen Deal zwischen der EU und dem Vereinigten Königreich.

Vom Brexit betroffene EU-Bürger fühlen sich mittlerweile manches Mal wie Schachfiguren beim Strategiespiel um einen Deal zwischen der EU und dem Vereinigten Königreich.

© Pixelbliss / stock.adobe.com

LONDON. "Nach 23 Uhr am 29. März kommenden Jahres ist völlig unklar, was mit uns passieren wird!" – Mit diesem Satz brachte Maike Bohn, seit vielen Jahren in Großbritannien ansässige Deutsche, den sich gerade entfaltenden Albtraum von rund 3,6 Millionen EU-Bürgern, die in Großbritannien leben und arbeiten, auf den Punkt. Bohn, die zu den engagierten Gründungsmitgliedern der Organisation "the 3 million" gehört, ist sehr besorgt. "Ich bin sehr verunsichert und es ist klar, dass die Politik uns EU-Bürger, die sich in Großbritannien niedergelassen haben, weiterhin als Faustpfand im Brexit-Poker missbraucht. Das ist ein ganz mieses Gefühl."

Als ich vor wenigen Tagen hier in London persönlich mit Maike Bohn und anderen Mitgliedern der "the 3 million"-Gruppe sprechen konnte, war das für mich ein bisschen, als ob man mit einem Problem zum Gesprächstherapeuten geht. Oder sich einer Selbsthilfegruppe anschließt.

Plötzlich waren da Menschen, die genau dieselben Ängste und Sorgen haben, die genauso wütend sind ob der Frage, was der anhaltende Brexit-Poker mit ihrem Leben und ihrer Gesundheit macht. Mein und unser Problem heißt Brexit. Und allein darüber mit anderen Betroffenen sprechen zu können – das tat richtig gut!

Schlaflose Nächte

Was bei meinem Treffen mit Maike Bohn und ihren Mitstreitern schnell klar wurde: neun von zehn EU-Ausländern in Großbritannien, darunter hunderte Ärztinnen und Ärzte, Krankenpfleger und anderes Gesundheitspersonal, haben buchstäblich schlaflose Nächte angesichts einer völlig ungewissen persönlichen und auch beruflichen Zukunft auf der Insel. Das weiß ich deshalb so genau, weil die Gruppe um Maike Bohn eine entsprechende Umfrage durchführen ließ.

"Ich schlafe schlecht, bin ständig gereizt und immer nervös. Selbst wenn irgendwo eine Autotür knallt, zucke ich zusammen", berichtete mir eine französische Journalistin, mit der ich während unseres Treffens mit den "the 3 million"-Organisatoren ins Gespräch kam.

Bei mir sind's nicht die knallenden Autotüren, sondern die hupenden Autos, die mit zucken lassen. Was, wenn man, so wie ich, direkt in der Londoner Innenstadt lebt; ein Problem ist, denn hier hupen die Autos ständig.

Wie wird es weiter gehen mit den Millionen EU-Bürgern in Großbritannien wie mir nach dem Austritt der Briten am 29. März 2019? Unklar. Mehr als 150 Detailfragen dazu sind laut Maike Bohn bislang ungeklärt.

Ob das nun zukünftige Rentenansprüche, der Zugang zur Gesundheitsversorgung durch den staatlichen britischen Gesundheitsdienst (National Health Service, NHS) oder auch Fragen bezüglich der Kinder sind – vieles steht noch immer in den Sternen. Und die Uhr tickt.

Wir hängen in der Luft

Theresa May ist zwischenzeitlich von den Plänen eines harten Brexits abgerückt. Doch zu vieles ist noch unklar — für uns. Laut Mays Vorschlag wird Großbritannien nicht länger Teil des Europäischen Binnenmarkts sein, damit würde auch die Personenfreizügigkeit enden, also das Recht von EU-Bürgern, sich in Großbritannien niederzulassen.

Ich werde also, gemeinsam mit rund 3,6 Millionen anderen EU-Ausländern, vom 30, März 2019 quasi in der Luft hängen. Eine beängstigende Vorstellung nach immerhin 32 Jahren leben, arbeiten und Steuern zahlen auf der Insel.

Und wenn mir dann französische Freunde wie kürzlich geschehen erzählen, dass sich die Pariser Regierung inzwischen ernsthaft sogar auf einen "No Deal Brexit" vorbereite, dann verstärkt sich dieses mulmige Gefühl in mir nur noch weiter.

Wie viele EU-Bürger genau seit dem Brexit-Votum vor etwas mehr als zwei Jahren Großbritannien bereits verlassen haben, ist nicht genau feststellbar. Immerhin gibt es anekdotische Hinweise, wonach zum Beispiel in vielen Hausarztpraxen und Kliniken die Brexit-bedingten Personallücken größer werden. "Solange niemand weiß, wie die Zukunft nach Brexit aussehen wird, solange will niemand hier herkommen, um zu arbeiten", so ein mir persönlich bekannter Krankenhausmanager kürzlich.

Der Mann ist mit seiner Meinung bei weitem nicht allein. Architekten-Büros berichten, seit dem Brexit-Votum nicht mehr ausreichend EU-Talente anwerben zu können. Die gehen heute lieber nach Berlin oder Paris … Man kann es verstehen.

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