Der Brexit-Blog

Brexit ohne Vertrag? Vielen Briten wird langsam schummrig

Das Gezerre um einen Brexit-Vertrag geht auf die Zielgerade. Immer mehr Briten fürchten, dass ein Happy-end ausbleibt. Zugleich wirbt – noch –eine Minderheit für ein zweites Votum.

Arndt StrieglerVon Arndt Striegler Veröffentlicht:
Demonstration für eine Abstimmung über den Brexit-Vertrag am 18. August in Edinburgh.

Demonstration für eine Abstimmung über den Brexit-Vertrag am 18. August in Edinburgh.

© Hilary Duncanson / empics / p

LONDON. Die britische Regierung, das Parlament und die meisten Briten genießen noch die Sommerferien und der politische Betrieb im Regierungsviertel Whitehall ruht weitgehend. Doch langsam dämmert es vielen meiner Landsleute, dass – sollte in den kommenden Wochen kein Wunder geschehen – der Brexit kein Happy-end für das Königreich haben könnte.

Mehr als zwei Jahre sind seit dem historischen Votum verstrichen, der EU Ende März 2019 endgültig den Rücken zuzukehren. Doch viel erreicht haben die britischen Unterhändler im Brexit-Poker mit Brüssel bislang nicht. Und jetzt wird die Zeit langsam knapp.

Der Chefverhandler der EU, Michel Barnier, wiederholte kürzlich, man müsse spätestens im Oktober oder Anfang November einen tragfähigen Kompromiss mit London im Sack haben, ansonsten drohe das Horror-Szenario eines No-Deal-Brexit.

Dass dieses Szenario, das weder im Interesse des Vereinigten Königreichs noch der EU sein kann, inzwischen immer wahrscheinlicher wird, liegt an zweierlei. Erstens an einer weiter auf unhaltbaren Prinzipien herumreitenden Londoner Regierung, die entweder den Ernst der Lage nicht erkennt oder – das ist wahrscheinlicher – darauf vertraut, dass man in Brüssel schon irgendwie einlenken werde.

Teile und herrsche – das klappt nicht

Zweitens liegt es daran, dass es bislang weder Premierministerin Theresa May noch ihren in diesem Sommer die EU bereisenden Ministern gelang, einen Keil zwischen den europäischen Block zu treiben. Vor 100 Jahren regierte dieses Land zwar die Welt. Doch die britische Königsdisziplin des Divide and Rule (frei übersetzt ungefähr: Entzweie deine Opponenten und dominiere sie dann) – diese jahrhundertealte Formel scheint nicht länger zu funktionieren.

Sehr zum Ärger und zur Frustration der überwiegend EU-feindlich eingestellten Medien, die inzwischen eine "Brüsseler Verschwörung" vermuten, die nur ein Ziel habe: entweder Großbritannien zu zerstören oder aber zur Umkehr, also zurück in den Schoß der EU, zu lotsen.

Bei einem Pubbesuch plauderte ich neulich mit einem guten Freund, der 2016 für einen Verbleib in der EU gestimmt hatte, über das Thema. "London will nach wie vor einen guten Deal. Brüssel will nur noch eine klare Trennung", so seine Erkenntnis. Der Mann hat recht, finde ich.

Diverse britische Wirtschaftszweige und Lobbyverbände nutzten das diesjährige Sommerloch zudem, um lautstark vor einem No-Deal-Szenario und dessen Folgen für die britische Wirtschaft und Gesellschaft zu warnen. Jüngstes Beispiel ist die Pharmabranche und der Krankenhaussektor.

So wandten sich die Trägergesellschaften britischer Krankenhäuser und Rettungsdienste des staatlichen Gesundheitsdienstes (National Health Service, NHS) an die Öffentlichkeit: Im Fall eines No-Deal-Brexit drohten den Kliniken und Arztpraxen "schlimme Versorgungsengpässe mit Arzneimitteln und medizinischem Verbrauchsmaterial", hieß es.. Arzneimittelhersteller warnen seit Monaten vor diesem Szenario, was speziell von Anti-EU-Politikern im Königreich wie dem ehemaligen Außenminister Boris Johnson als "Panikmache" und "dummes Gerede" abgetan wird. "Das grenzt an Realitätsverweigerung", sagte ein mir bekannter Londoner Krankenhausarzt.

Zweites Referendum? Eher nicht

Die Europäische Arzneimittelagentur (EMA), die künftig von Amsterdam aus arbeiten wird, hält sich mit Brexit-Warnungen zurück. Was nicht zuletzt politische Gründe hat. Redet man aber mit EMA-Leuten, wird schnell klar, wie besorgt man auch bei den Arzneimittelprüfern ist. Auch dort wird hinter vorgehaltener Hand von dem "Horror-Szenario" eines No-Deal- Brexit gesprochen.

Unterdessen werden Rufe nach einem zweiten Brexit-Referendum lauter. Es ist aber schwierig, genau zu sagen, wie viele Briten dafür wären, abermals abzustimmen. Fest steht: Sowohl bei den regierenden Tories als auch bei Labour mehren sich solche Stimmen. Die dritte große Partei im Unterhaus, die Liberalen, sind ohnehin dafür, in der EU zu bleiben.

Große Unternehmen wie zuletzt der Bekleidungshersteller Superdry, der eine Millionen Pfund (rund 1,15 Millionen Euro) stiftete, geben Geld für die "Second Vote"-Initiative. Viele Unterhausabgeordnete aller Parteien haben sich außerdem zu einer Lobbygruppe namens "The Peoples Vote" zusammengeschlossen mit dem Ziel, Regierungschefin May zu einer erneuten Abstimmung zu zwingen.

Bislang hat Downing Street diese Möglichkeit kategorisch ausgeschlossen. Die meisten Beobachter in Westminster halten es ebenfalls für eher unwahrscheinlich, dass noch einmal abgestimmt wird.

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