Brexit

Erleichterung und Sorgen bei britischen Ärzten

Sie sind nach dem Brexit-Austrittsvertrag dankbar, dass Licht am Ende des Tunnels zu erkennen ist. Doch viele britische Ärzte sind sicher: die NHS-Gesundheitsversorgung wird sich verschlechtern.

Von Arnd Striegler Veröffentlicht:
Die britische Premierministerin Theresa May hat den Brexit-Deal mit der EU ausgehandelt.

Die britische Premierministerin Theresa May hat den Brexit-Deal mit der EU ausgehandelt.

© Dylan Martinez / picture alliance / REUTERS

LONDON. Alles ist besser als diese jahrelange Unsicherheit, was mit einem passieren wird! – das ist die Botschaft eines Londoner Klinikarztes.

Er arbeitet seit mehr als zehn Jahren für den staatlichen britischen Gesundheitsdienst (National Health Service, NHS), und er ist wie tausende seiner Medizinerkolleginnen und -kollegen erleichtert, dass sich Großbritannien nach fast zwei Jahren Pokerspiel mit Brüssel zumindest auf die Rahmenbedingungen für den Brexit geeinigt hat.

Denn aktuelle Zahlen und Berichte aus dem NHS zeigen, dass der Austritt des Königreichs aus der EU nach mehr als 40-jähriger Mitgliedschaft bereits heute ernsthafte Folgen für den Gesundheitssektor hat.

Viel Gesprächsstoff bei Ärzten

Der am vergangenen Wochenende in Brüssel unterschriebene Austrittsvertrag (juristisch bindend) und die ihn begleitende politische Absichtserklärung (nicht-bindend), in der formuliert wird, wie sich beide Seiten die zukünftigen Beziehungen zwischen dem Festland und der Insel vorstellen, sorgt auch im britischen Mediziner-Alltag für haufenweise Gesprächsstoff.

Spricht man mit NHS-Beschäftigten über das, was da jetzt vereinbart wurde, fällt auf: Egal ob Brexit-Befürworter oder Gegner – Einigkeit herrscht darüber, dass das Ende der Unsicherheit in jedem Fall eine gute Sache für alle Beteiligten sei.

„Ich weiß jetzt zumindest, wie es weiter gehen könnte“, so der eingangs zitierte Klinikarzt: „Das macht die Zukunftsplanung wesentlich leichter.“

Freilich: Zwar einigten sich London und Brüssel jetzt darauf, wie die Scheidung Ende März 2019 ablaufen soll. Und damit auch darauf, dass zum Beispiel deutsche und andere europäische Ärztinnen und Ärzte, Krankenschwestern und -pfleger und die mehr als drei Millionen heute auf der Insel lebenden anderen EU-Bürger auch nach dem Brexit nichts Schlimmes zu befürchten haben.

Sie dürfen „bleiben und genauso weiter leben wie bisher“, heißt es. Doch die Sache hat einen Haken: Zunächst muss das britische Parlament dem Deal zustimmen. Und derzeit sieht es nicht so aus, als wenn die Unterhausabgeordneten bei der historischen Abstimmung vermutlich am 12. Dezember „Yes“ sagen werden…

Mehrheit für EU-Verbleib

Ohnehin stehen die Zeichen in britischen Arztpraxen, Kliniken und anderen Versorgungseinrichtungen seit dem Brexit-Votum auf Sturm.

64 Prozent der kürzlich von YouGov befragten NHS-Beschäftigten glauben, der staatliche Gesundheitsdienst werde sich nach dem Brexit entweder „qualitativ verschlechtern“ oder sogar „qualitativ stark verschlechtern“. Demnach erwarten Ärzte sowohl „längere Wartezeiten bei der stationären und fachärztlichen Versorgung“ als auch „deutlich mehr Personalmangel“.

75 Prozent der kürzlich befragten Ärztinnen und Ärzte, Krankenschwestern und -pfleger würden heute für einen EU-Verbleib stimmen.

„Wir wissen jetzt, was der Austritt konkret für das Gesundheitswesen bedeuten wird und das sieht alles gar nicht gut aus“, so eine Sprecherin des großen Londoner Krankenhauses Guys and St. Thomas. Und: „Die Patienten werden die großen Verlierer sein.“

Diese und andere Meinungsumfragen bei Gesundheitsberufen zeigen eindringlich, dass es die Londoner Regierung nicht geschafft hat, die Ärzteschaft davon zu überzeugen, dass der Brexit für das Land und damit auch für den NHS „eine große Brexit Dividende“ mit sich bringen werde.

Happy End ist unwahrscheinlich

Brexit-Befürworter hatten immer wieder behauptet, der NHS könne „bis zu 350 Millionen Pfund wöchentlich“ mehr Geld bekommen, wenn Großbritannien nicht länger EU-Beiträge zahlen müsse. Viele Wähler glaubten dies.

Auch bei Arzneimittelherstellern ist man nervös und unsicher. Zahlreiche Unternehmen haben sich dem Vernehmen nach bereits auf das ultimative Horror-Szenario eines No Deal-Brexit vorbereitet.

Und es gibt Indizien, dass Gesundheitsverwaltungen im Königreich fertige Pläne in der Schublade haben, im Falle eines chaotischen Austritts mittels „Pharma-Luftbrücken“ lebenswichtige Medikamente ins Land zu holen.

Das könnte dann zum Beispiel relevant werden, wenn die großen Seehäfen wie Dover wegen Abfertigungsproblemen blockiert sind.

Ob Ärzte, Patienten, Pharma-Industrie oder Öffentlichkeit: Niemand weiß, welches Ende das Brexit-Theater letztendlich nehmen wird. Ein Happy End dürfte freilich auch nach den jüngsten Verhandlungsfortschritten eher unwahrscheinlich sein.

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