Brexit-Wirrwarr

Kranke Briten zahlen die Zeche

Während im Unterhaus der Brexit in immer neuen parlamentarischen Winkelzügen verhandelt wird, sind Patienten in Großbritannien schon jetzt die Leidtragenden. Weil immer mehr Personal fehlt, verlängern sich die Wartezeiten für eine Behandlung im NHS.

Arndt StrieglerVon Arndt Striegler Veröffentlicht:
In der Warteschleife oder schon in Behandlung? Patienten im NHS müssen auch bei schwerer Krankheit manchmal lange warten.

In der Warteschleife oder schon in Behandlung? Patienten im NHS müssen auch bei schwerer Krankheit manchmal lange warten.

© dpa

LONDON. Es ist schwer, in dem Brexit-Wirrwarr, der seit Wochen nun die Schlagzeilen beherrscht, nicht den Blick für das Wesentliche zu verlieren.

Mit Blick auf Ärzte, Patienten und Gesundheitsversorgung in Großbritannien und auch in der EU bedeutet dies: Wer sind die Verlierer im Brexit-Poker? Wer wird letztlich die Zeche zahlen für die atemberaubende Inkompetenz und das Chaos, das die Londoner Regierung anrichtet?

Die Antwort: Schwerkranke Patienten, die nicht mehr zeitnah versorgt werden können; mehr als eine Million britische Patienten, die derzeit außerhalb Großbritannien in anderen EU-Ländern leben; in Großbritannien arbeitende Ärzte aus EU-Ländern, deren berufliche und private Zukunft ungewiss ist. Das sind einige der Leidtragenden. Doch es gibt noch mehr.

Krebsdiagnose – dann zwei Monate warten

Kürzlich schlug das altehrwürdige Royal College of Nursing (RCN) – der größte britische Berufsverband für Krankenpflegekräfte – Alarm mit Blick auf die Abwanderung qualifizierter Fachpflegekräfte. Diese hat sich seit Juni 2016 und dem Brexit-Referendum laut RCN deutlich verstärkt.

Und es führt in immer mehr Krankenhäusern und Einrichtungen des staatlichen britischen Gesundheitsdienstes (National Health Service, NHS) zu Versorgungslücken. Neue, offizielle Zahlen des NHS vom Januar belegen die Dynamik der Entwicklung.

Danach ist die Zahl jener schwerkranker Patienten, die nicht zeitnah versorgt werden können, im Jahr 2018 deutlich gestiegen. Die Zahl derer, die von ihrem Hausarzt dringlich für eine erste fachärztliche Konsultation in die Klinik überwiesen und nicht zeitnah versorgt wurden, stieg um 60 Prozent.

Beispiel Onkologie: Fast 21 Prozent der Krebspatienten warteten nach der Überweisung länger als zwei Monate auf ihre erste Behandlung im Krankenhaus (siehe nachfolgende Tabelle).

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Zehntausende Patienten und ihre Familien müssten „unerträgliche Wartezeiten“ hinnehmen, obwohl ihnen nur allzu klar ist, dass auch geringe Verzögerungen schwere Folgen haben können, sagte RCN- Direktorin Patricia Marquis zu den NHS-Zahlen. Und die Reaktion?

Außer einigen Berichten in Tageszeitungen oder dem einen oder anderen Onkologen, der öffentlich die teils haarsträubenden Zustände anprangert, passiert nicht viel. Man geht schnell wieder zur Tagesordnung über.

Was zynisch ist, schließlich geht es um Patientenleben. Derweil sind britische Politiker auch nach mehr als zwei Jahren nicht in der Lage, klare Ansagen in Sachen Brexit zu treffen.

Versorgung von Auslandsbriten unklar

Mehr als eine Million Briten leben und arbeiten derzeit in anderen EU-Staaten. Auch für sie wird sich durch den Brexit viel ändern. Gerade gab die Londoner Regierung bekannt, dass diese Patienten im Falle eines No-Deal-Brexit vermutlich nicht länger Anspruch auf Gesundheitsversorgung in ihrer gewählten EU-Heimat haben werden.

Vielen von ihnen werde nichts anderes übrig bleiben, als ihr Leben in Spanien, Frankreich, Deutschland oder Skandinavien in Kisten zu packen, um zurück nach Großbritannien zu kommen. Denn nur auf der Insel könnten sie sich nach dem 29. März sicher sein, im Krankheitsfall auch versorgt zu werden, heißt es.

Doch regt sich in Großbritannien irgendjemand groß über derartige Ungerechtigkeiten auf? Fehlanzeige! Aus persönlichen Kontakten und Gesprächen in Großbritannien weiß ich, dass auch viele Ärzte schlaflose Nächte haben, wissen sie doch nach wie vor nicht, wie es nach dem 29. März für sie beruflich weitergehen wird.

Kürzlich hatte ich die Gelegenheit, persönlich im Londoner Unterhaus mit dabei zu sein, als die Damen und Herren Abgeordneten über das von Regierungschefin May ausgehandelte EU-Austrittsabkommen abstimmten.

Was ich dort im ältesten Parlament der Welt sah und hörte, verschlug mir die Sprache: Anstatt den Ernst der Lage zu erkennen, wie dicht das Land vor einem chaotischen Brexit ist, verlor man sich in politischem Schattenboxen. Schaufenster-Reden, vagen Absichtserklärungen.

Großbritannien anno 2019 gibt ein beschämendes und befremdliches Bild ab. Der Ausgang dieses gefährlichen Spiels nationaler Eitelkeit ist völlig ungewiss.

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