Flüchtlingscamp in Dresden

"Wir arbeiten wie im Feldlazarett"

Die medizinische Versorgung im Erstaufnahmecamp für Flüchtlinge in Dresden ist improvisiert - und nur möglich, weil Ärzte Urlaub und Freizeit opfern.

Von Nicola Siegmund-Schultze Veröffentlicht:
Das Zeltlager für Flüchtlinge in Dresden: Etwa 1100 Menschen leben hier, jeder zehnte braucht täglich einen Arzt.

Das Zeltlager für Flüchtlinge in Dresden: Etwa 1100 Menschen leben hier, jeder zehnte braucht täglich einen Arzt.

© Arno Burgi/dpa

DRESDEN. Einer der zuletzt von Gerhard Ehninger behandelten Patienten ist ein 45-jähriger Mann aus Syrien. Er klagte über Kopfschmerzen, hatte Fieber und Husten. Es gibt viele Differenzialdiagnosen und Ehninger hätte gern eine schwere Infektion ausgeschlossen, unter anderem mit einem Röntgenthorax.

Aber das ist nicht möglich. Die Ärzte, die Flüchtlinge in dem Erstaufnahmecamp in Dresden behandeln, dürfen nur in einem Notfall fachärztliche diagnostische Untersuchungen veranlassen, auch wenn dies Infektionsprophylaxe wäre für die Flüchtlinge und ihre Helfer.

Als im August noch einmal die Temperaturen anstiegen, wurden es im Container für die ärztliche Versorgung über 40 Grad Celsius. "Wir arbeiten unter den Bedingungen eines Feldlazarettes", sagt Ehninger.

"Die Patienten liegen während der Behandlung auf einer Pritsche, etwa 20 Menschen warten, es gibt keinen Sicht- und keinen Geräuschschutz, aber einen hohen Geräuschpegel, oft fehlt es an Dolmetschern, wir Ärzte knien häufig vor einer Notliege auf dem Boden. Dass so keine ordentliche Patientenuntersuchung möglich ist, können Sie sich vorstellen."

Hemmschuh Bürokratie

Ehninger ist verärgert. Aus der Reihe der Kollegen - es sind 40 Ärzte, die im Erstaufnahmecamp in Dresden ehrenamtlich helfen - gab es mehrere Vorschläge, wie leer stehende Räume in der Nähe für die medizinische Versorgung der Flüchtlinge genutzt werden könnten.

Auch die Uniklinik bot Räume und Unterstützung an. Aber bislang scheiterten die Initiativen an Bürokratie, unklaren Zuständigkeiten, möglicherweise auch am politischen Willen, ist Ehningers Eindruck. Ehninger (63) ist ein international renommierter Hämatologe und Onkologe, er ist Direktor der Medizinischen Klinik und Poliklinik I des Universitätsklinikums Dresden.

Schon vor der aktuellen Flüchtlingswelle hat er sich gegen Pegida engagiert, ist auf Demonstrationen gegen Fremdenfeindlichkeit gewesen, hat in die Fernsehkameras gesagt, dass er die Unterstützung von Menschen, die Hilfe brauchen, für eine moralische Pflicht hält, ohne Ansehen der Person.

"Ich bin schon immer sozialpolitisch engagiert gewesen", sagt Ehninger, das entspreche einem ärztlichen Muster. Aber auch Vorbildern in der Familie. Ehninger wuchs mit zwei Geschwistern am Rand des Schwarzwalds auf, der Vater ist Schulleiter, die Mutter Schneiderin. Pflegebedürftige Angehörige wurden in der Familie versorgt, am Ort hilft man sich in der Landwirtschaft.

Faschistoide Pöbeleien

Nach dem Medizinstudium wird Ehninger Ende der 1970er Jahre wissenschaftlicher Assistent am Universitätsklinikum Tübingen, er spezialisiert sich auf Bluterkrankungen, habilitiert sich 1985.

In den frühen 1980er Jahren habe er die Flüchtlingswelle aus Eritrea nach Süddeutschland erlebt, ein Kollege habe eine schwangere Frau mit weiteren Kindern, für die sich keine Unterkunft finden ließ, in das gemeinsam bewohnte Haus aufgenommen, das habe ihn beeindruckt.

Jetzt muss er sich von Demonstranten beschimpfen lassen, wenn er zu dem mit rund 1100 Menschen stark überbelegten Erstaufnahmecamp in Dresden fährt: "Verräter" hört er häufiger oder, im Camp gebe es "wieder Frischfleisch".

Nicht alle Pöbeleien eigneten sich für den Abdruck, er spüre Aggressivität um das Camp herum. Aber auch viel Solidarität. Die Hochschulspitze steht hinter Ehninger, viele Klinikkollegen und niedergelassene Ärzte opfern wie er Urlaub und Freizeit.

Risiko Infektionskrankheiten

Nach einem langen Arbeitstag beginnt am Nachmittag um vier Uhr für die Ärzte der Einsatz im Camp, er dauert etwa vier Stunden. Bis vor Kurzem gab es für alle im Camp nur zehn Dixitoiletten, die Geruchsbelästigung sei bei 40 Grad Celsius "beträchtlich" gewesen, Durchfallerkrankungen kursierten. "Wenn da ein Norovirusausbruch kommt, bricht das System zusammen", sagt Ehninger.

Grippale und andere Infekte sind die häufigsten Erkrankungen, außerdem Verletzungen, offene Wunden, meist Folgen der langen Fußmärsche. Bei dem 45-jährigen Mann aus Syrien vermute er posttraumatischen Kopfschmerz, sagt Ehninger.

Wäre eine vorgeschriebene Erstuntersuchung durch das Gesundheitsamt - auch vier Wochen nach Aufbau des Dresdner Zeltlagers findet sie noch in Chemnitz statt - erfolgt, wären Tuberkulose oder Pneumonie durch den üblichen Röntgenthorax ausgeschlossen gewesen. Krätze tritt auf im Camp, ein Zeichen mangelnder Hygiene.

Dicht an dicht leben die Flüchtlinge hier, vier Quadratmeter würden jedem nach internationaler Konvention zustehen, mit 2,3 Quadratmetern pro Person müssen sie sich zur Zeit begnügen. Ehninger und seine Kollegen fordern ein Ende der improvisierten ärztlichen Versorgung.

Und das sei auch möglich. Täglich brauchen zehn Prozent der Flüchtlinge einen Arzt, das sind in Dresden 110 Personen. Ehninger: "Bei jeder Großveranstaltung sind es mehr, und da bricht auch kein System zusammen."

Es müssten Kollegen hauptamtlich engagiert werden, es müsse geeignete Untersuchungsräume geben und Zugang zu Notfallambulanzen in Kliniken. Ein Plädoyer auch für die Stärkung der Migrationsmedizin in Deutschland.

Wie erlebt er die Flüchtlinge? Gibt es fordernde, aggressive? "Natürlich fallen da nicht nur Engel vom Himmel", sagt Ehninger, aber fordernd? Nein. "Dankbar sind alle, manche glücklich."

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