Drogensucht bei Flüchtlingen
Problem bislang verkannt
Schätzungen zufolge ist jeder zweite Flüchtling traumatisiert. Die psychotherapeutische Versorgung ist lückenhaft, nicht selten folgt darauf eine Selbstmedikation - mit dem Risiko für Abhängigkeit.
Veröffentlicht:NEU-ISENBURG. Das Risiko, dass traumatisierte Flüchtlinge nach der Ankunft in Europa ein Suchtproblem entwickeln, ist hoch. Allerdings fehlen konkrete Zahlen zum Vorkommen psychischer Leiden, Drogenabhängigkeiten sowie bereits vorhandener Suchtprobleme im Heimatland.
Zu diesem Fazit kamen in der Flüchtlingsversorgung tätige Experten bei einem Workshop der Bayerischen Akademie für Suchtfragen in Forschung und Praxis (BAS). Sie hatte eingeladen, um Beobachtungen zu sammeln und das "Risiko einer massenmedialen Verzerrung" zu verringern, so Professor Felix Tretter, Vize-Vorsitzender der BAS.
Tretter betonte, dass ankommende Flüchtlinge drei veränderte Situationen bewältigen mussten: den Kriegszustand, die Flucht und die Situation im Zufluchtsland.
"In allen Stadien besteht traumatisierender Stress und demzufolge das Risiko, dass durch Einnahme von Alkohol, Tabak, Benzodiazepinen, Amphetaminen, Cannabis und auch Opioide eine Selbstmedikation erfolgt.
"Beobachtungen des kbo-Isar-Amper-Klinikums München zufolge entwickelt das Gros der Patienten die Abhängigkeit jedoch erst im dritten Abschnitt, also in Europa.
Etwa 50 Prozent leiden an einer seelischen Erkrankung
Der Leistungsanspruch aber, bemängelten die Workshop-Teilnehmer, sei aktuell nicht klar geregelt: Eine Psycho-, oder Suchttherapie gehe über die originär in Paragraf 6 Asylbewerberleistungs-Gesetz vorgesehenen Ansprüche hinaus und sei als "sonstige Leistung" stets in einer Einzelfallprüfung zu entscheiden.
Dass der Bedarf groß ist, beobachtet Rabee Mokhtari Nejad von der Migrationsambulanz der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie der LMU München. 60 Prozent der Patienten stammen aus Afghanistan.
Unbegleitete minderjährige Flüchtlinge konsumierten Mokhtari Nejad zufolge in erster Linie Alkohol, unter afghanischen Frauen seien Polypharmazie und Benzodiazepine in Zusammenhang mit affektiven Störungen und Traumata als "Selbstmedikation" weit verbreitet. Kopfschmerzmittel würden vielfach eingesetzt, obwohl die Ursache oft in einer zu geringen tägliche Trinkmenge liege.
Drogenkonsum kulturell verankert
Zudem sei der Drogenkonsum oft auch kulturell verankert, stellten die Experten fest. So sei gerade Opium in Afghanistan und anderen Ländern des Nahen und Mittleren Ostens weit verbreitet.
Dr. Tim Pfeiffer-Gerschel vom IFT Institut für Therapieforschung München berichtete neben dem "traditionellen" Konsum von Opium und Cannabis über einen Anstieg bei Stimulanzien, "da Flucht anstrengend ist". So werde in Syrien laut Weltdrogenbericht 2013 etwa ein steigender Konsum des Amphetamin-Derivats Captagon beobachtet.
"Die Datenlage ist jedoch lückenhaft, sodass sich eine Unterschätzung des Trends vermuten lässt."
Suchtberatung bei Flüchtlingen sei oft zeitintensiv, aber wirksam, betonte Uwe Steinbrenner von der Condrobs Drogenberatung München. Er wies auf die Wichtigkeit interkultureller Kompetenzen hin - vor allem mit Blick auf die Zukunft.
Der Behandlungsbedarf werde steigen, prognostizierte er. Frühe Intervention sei "von großer Bedeutung", um eine Chronifizierung zu vermeiden.