Hilfe kommt im Bus

Mobile Sprechstunde für Flüchtlinge in München

Mit mobilen Sprechstunden möchte die Hilfsorganisation Ärzte der Welt die medizinische Versorgung von Flüchtlingen verbessern. Kernziel ist es, bei der Integration in die Regelversorgung zu helfen.

Von Christina Bauer Veröffentlicht:
Einsatz im Arztmobil: Dr. Stephanie Sammet behandelt einen Patienten.

Einsatz im Arztmobil: Dr. Stephanie Sammet behandelt einen Patienten.

© Christina Bauer (2)

MÜNCHEN. Etwas schüchtern blickt Mina zu Boden. Das dreijährige afghanische Mädchen sitzt mit seiner Mutter im provisorischen Wartezimmer. Es ist sonst ein Hausaufgabenraum in der Gemeinschaftsunterkunft (GU) für Flüchtlinge im Münchner Stadtteil Obersendling. An diesem Tag aber gibt es Besuch vom Projekt Ärzte der Welt mobil. Diese Gelegenheit, einen Arzt aufzusuchen, nehmen die Bewohner gern wahr. Seit November 2016 ist der Behandlungsbus einmal pro Woche da. Meist bleibt er vier Stunden, je zur Hälfte für eine pädiatrische und eine allgemeine Sprechstunde. Es ist die achte Unterkunft der Landeshauptstadt, die der Bus an diesem Tag anfährt. Träger der Einrichtung ist die Innere Mission.

Die mobile Sprechstunde entstand im Herbst 2015, als besonders viele Flüchtlinge in München ankamen. Anfangs fand sie in provisorischen Sprechzimmern statt, bald im ersten Kleinbus. Vor einigen Monaten bekam Ärzte der Welt einen größeren, speziell ausgerüsteten Bus von einer Münchner Stiftung. In den Gemeinschaftsunterkünften der Stadt leben derzeit mehrere tausend Flüchtlinge. Für sie sind diese die nächste Station nach den Erstaufnahmeeinrichtungen.

Melden die Träger bei Ärzte der Welt Bedarf an, gibt es für einige Wochen regelmäßig Sprechstunden. Dadurch sollen die Bewohner zugleich Kontakt zu niedergelassenen Ärzten bekommen. Ist das erreicht, steuert das Mobil neue Ziele an.

Den kastenförmigen, grauen Betonbau in Obersendling aber besucht es nun schon seit einem Vierteljahr. Hier leben etwa 700 Menschen, die Kapazität wäre bei 800. Damit ist es eine der größten GUs der Stadt. Zudem gibt es viel Fluktuation, und mit neuen Bewohnern neue Nachfragen. Aber manche Flüchtlinge bleiben lang.

Sorge vor Abschiebung

Sorosh ist seit 14 Monaten in Deutschland, einen Großteil davon an dieser GU. Der 20-jährige klagt über starke Magenschmerzen, deswegen möchte er heute zum Arzt. Noch mehr plagt ihn etwas anderes. Er weiß immer noch nicht, ob er in Deutschland bleiben kann. Er ist Afghane, schaffte es von Kundus auf dem Landweg bis München. Er hat gehört, die Regierung wolle Afghanen jetzt abschieben. In Kundus, berichtet er, gibt es jeden Tag Tote. "Das ist sehr schwierig für mich", sagt Sorosh.

Walid Abdalla kennt das ewige Warten. Der Syrer lebt selbst seit 13 Jahren in Deutschland. Er ist einer von acht Sozialbetreuern, eingesetzt von der Inneren Mission für die täglichen Belange der Bewohner des Hauses. Zudem gibt es zehn Sozialberater, die auch bei Asylfragen helfen. Sie fragen oft wegen offener Verfahren beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) nach. "Manchmal dauert es ein halbes Jahr", so Abdalla. "Das ist normal, aber ein Jahr ist zu viel. Es gibt Leute, die seit zwei Jahren hier sind und immer noch keine Antwort haben." Bei Menschen aus Syrien, dem Irak und Eritrea gehe es mit einem halben Jahr relativ schnell. Für Menschen aus Afghanistan aber ist die Situation zuletzt viel schwieriger geworden. Die Erklärung zu einem "sicheren Herkunftsland" sorgt für Ungewissheit. Ein UNHCR-Bericht stellte aber jüngst fest, es sei unmöglich, in dem Land eine Region als sicher zu benennen. Die Kämpfe haben sich 2016 verschlimmert, es gab etwa 8000 Verletzte, 3500 Tote, und mehr als eine halbe Million Binnenvertriebene. Am 8. Februar wurden sechs Helfer des Internationalen Roten Kreuzes getötet. ProAsyl und der Paritätische Wohlfahrtsverband fordern einen Stop der Abschiebungen. Mehrere Bundesländer haben diese ausgesetzt, aber nicht alle.

Sorosh geht in München zur Schule, kann bald die Prüfung machen für die Mittelschule. Er spricht schon gut Deutsch. Vielen anderen Flüchtlingen helfen derzeit noch Dolmetscher, sie übersetzen in den Sprachen Dari, Farsi, Arabisch oder Kurdisch. Für die mobile Sprechstunde sind heute drei Dolmetscher mit dabei.

Behandlungsbus

Ziel ist die Versorgung von Flüchtlingen in Gemeinschaftsunterkünften.

Ärzte in diesem Bus sind freiwillig im Einsatz.

Ein weiterer Gedanke ist es, den Patienten so Brücken in die Regelversorgung zu bauen.

Im Behandlungsbus beginnt Kinderarzt Dr. Udo Schillmöller seine Arbeit. Der 76-Jährige ist pensioniert und übernimmt seit einem Jahr mobile Sprechstunden. Er macht das ehrenamtlich, so wie alle Ärzte hier.

Eine afghanische Mutter ist mit ihren Kindern an der Reihe. Mina ist da, und jetzt auch ihr fünfjähriger Bruder Arif. Er setzt sich als erster auf die Liege vorne im Bus. Die Mutter meint, er habe Schnupfen. Schillmöller fragt nach Husten. Kein Husten, erfährt er. Der Arzt mustert Arif prüfend. Er würde ihn gern wiegen, aber die Batterie der Waage ist leer. Die 15,7 kg vom letzten Termin findet er zu wenig. Auf seinen Hinweis vermerkt seine Assistentin im Dokumentationsbogen, dass nächstes Mal gewogen wird. Der Arzt inspiziert die Zunge des Jungen, horcht ihn ab und prüft die Ohren. Er entscheidet, Meerwasserspray und Wundsalbe für die Nase mitzugeben. Das Spray ist in den gut sortierten Medikamenten-Boxen im hinteren Teil des Busses schnell gefunden.

Von der Salbe aber gibt es keine Spur. Wie sich herausstellt, fehlen alle Salben. Sie wurden der Kälte wegen entnommen und nicht zurückgelegt. Der Arzt gibt noch ein Vitaminpräparat mit, dann untersucht er Mina. Auch sie hat einen Infekt der oberen Atemwege und bekommt Nasentropfen. Schillmöller erklärt die Anwendung. Mit einer kleinen Arzneitüte macht sich die Familie auf den Weg. Schillmöller bringt seine Erfahrung hier gern ein. "Ich bin Kinderarzt seit fünfzig Jahren, da muss doch irgendwas hängenbleiben", scherzt er.

Der Bus wird desinfiziert, die Kindersprechstunde ist vorbei, die allgemeine Sprechstunde beginnt. Die übernehmen heute Dr. Stefanie Sammet und Dr. Johannes Dorr. Sammet arbeitet am Klinikum der Ludwig-Maximilians-Universität in der Infektionsambulanz. Sie betreut dort HIV- und Hepatitis C-Patienten. Zusätzlich hilft sie in der Erstaufnahme an der McGraw-Kaserne, bei der open.med-Ambulanz von Ärzte der Welt und seit Kurzem im mobilen Projekt. Dorr ist seit letztem April am Chirurgischen Klinikum München Süd auf der Intensivstation. Neben der Weiterbildung möchte er nun auch Flüchtlingen helfen. Insgesamt wuchs der Ärztepool schnell, wie Sammet berichtet. Mit sechs Ärzten fingen sie an, jetzt sind es doppelt so viele. Die meisten sind Allgemeinärzte, zudem je zwei Frauen- und Kinderärzte.

Zuletzt kam noch Psychiaterin Stephanie Hinum hinzu. Sie hält seit November an dieser GU eine Sprechstunde, zeitgleich zur allgemeinen. "Es ist gut, dass die psychiatrische Sprechstunde parallel läuft", sagt Carolin Dworzak, Referentin für Öffentlichkeitsarbeit bei Ärzte der Welt. "Erst letzte Woche wurde ein Patient aus der allgemeinmedizinischen Sprechstunde direkt dorthin weiter verwiesen."

Elisabeth Biber arbeitet nach mehreren humanitären Auslandseinsätzen jetzt in München. Seit Juli 2016 koordiniert sie für Ärzte der Welt den Bereich Medizinische Unterstützung von Flüchtlingen. "Es liegt nicht jedem Arzt, im Bus mit Dolmetschern und zu späten Abendzeiten zu arbeiten", sagt sie. "Aber die, die mitmachen, machen regelmäßig mit." Bis der Bus abends schließt, wurden acht Kinder und sieben Erwachsene behandelt. Insgesamt waren es seit Projektstart 1120 Menschen. Die Diagnosen sind vielfältig, Schlafstörungen etwa, orthopädische und Hautprobleme. Manchmal gibt es Probleme mit einer alten Schussverletzung, die nie richtig behandelt wurde, oder einer Herzerkrankung, die den Patienten umgehend in eine Klinik führt.

Versäumte Termine

Weitere Hilfe bietet ein Netz von 80 niedergelassenen Fachärzten, die bei Bedarf kostenlos behandeln. Sobald sie in den Unterkünften wohnen, sollten Flüchtlingen Arzttermine allein bewältigen. Das funktioniert allerdings oft nicht. Ärzte der Welt mobil versucht, eine Brücke zu bilden.

Auch dann, wenn in manchen Praxen Kapazitäten, Sprachbarrieren oder versäumte Termine zu besonderen Herausforderungen führen. Einige Patienten wagen den ersten Praxisbesuch von sich aus. "Manche kommen zu uns und sagen: ,Der Arzt hat mir das hier aufgeschrieben, das habe ich nicht ganz verstanden‘", berichtet Biber. "Aber sie waren immerhin schon beim Arzt. Da sind wir immer ganz stolz." Zeigt sich das Bedürfnis nach ganz speziellen Angeboten, versuchen die Helfer, schnell zu reagieren.

Neu im Programm sind Frauengesundheitsabende. Zum Beispiel in München-Ramersdorf, in einer Gemeinschaftsunterkunft für 200 Menschen: Zwei Gynäkologinnen und eine Übersetzerin gestalten den Abend.

"Es gibt bei den Frauen viele Fragen zur Gesundheit", sagt Dr. Britta Dechamps. Sie kommen aus Syrien, Eritrea und dem Iran. Es geht um Frauengesundheit, Familienplanung und Verhütung, um Regelbeschwerden und psychische Probleme. Auf einiges, wofür im Praxisalltag Zeit und Ruhe fehlen, konnten die Ärztinnen erste Antworten geben.

Die Arbeit im Behandlungsbus geht weiter, die freiwilligen Helferinnen und Helfer lassen keinen Zweifel: Sie wollen die Menschen, die zum Teil unter dramatischen Umständen nach Deutschland gekommen sind, auch in Zukunft nicht im Stich lassen.

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