Gendermedizin

Kein Projekt "verbohrter Emanzen"

Geschlechtsspezifische Medizin spielt in immer mehr Fachgebieten eine Rolle. Dabei zeigt sich vor allem eines: Beide Geschlechter haben einen Nutzen davon.

Von Anja Krüger Veröffentlicht:
Frau oder Mann? Das spielteine große Rolle in derTherapie, doch die Forschung dazu steht noch ganz am Anfang.

Frau oder Mann? Das spielteine große Rolle in derTherapie, doch die Forschung dazu steht noch ganz am Anfang.

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KÖLN. Ärztinnen fürchten diesen Vorwurf, dabei ist er unberechtigt: dass geschlechtsspezifische Medizin ein Projekt verbohrter Emanzen ist.

Das ist sie ganz und gar nicht. "Von geschlechtsspezifischer Medizin profitieren nicht nur Frauen, sondern beide Geschlechter", bekommt schnell zu hören, wer mit Wissenschaftlerinnen über dieses Thema spricht.

Geschlechtsspezifische Medizin oder Gender-Medizin, wie es neudeutsch heißt, befasst sich mit der Frage, welche Bedeutung das Geschlecht für Gesundheit, Prävention, Behandlung oder Reha hat.

Bei vielen Erkrankungen zeigen Frauen und Männer unterschiedliche Symptome und reagieren anders auf Therapien. Vieles, aber nicht alles ist biologisch bestimmt. "Es gibt grundsätzlich keine reinen biologischen und keine reinen sozialen Ursachen", sagt Professorin Bettina Pfleiderer von der Universität Münster.

Auch wenn die Gender-Medizin in Deutschland noch jung ist, bewegt sich viel: Vom Forschungsprojekt "geschlechtsspezifische Einflüsse auf den Stoffwechsel bei der Alzheimer-Erkrankung" an der Universität Leipzig über die Kardiologie bis zur Umweltmedizin - in immer mehr Fächern spielt dieser Ansatz eine Rolle.

Ein Grund ist die zunehmende Präsenz von Wissenschaftlerinnen in der Forschung. Denn es sind nicht nur, aber gerade Frauen, die sich mit Gender-Medizin befassen.

Beide Geschlechter profitieren

"Allerdings gibt es auch mehr politische Unterstützung für dieses Thema", sagt Professorin Marion Haubitz vom Klinikum Fulda. Das drückt sich auch in finanzieller Förderung von Forschungsprojekten aus. Haubitz leitet die Arbeitsgruppe "Frau und Niere" der Deutschen Gesellschaft für Nephrologie.

"Unsere Arbeitsgruppe soll die Karriereplanung von Ärztinnen unterstützen und den Gender-Aspekt in unserem Fach voranbringen", sagt sie. Ein Schwerpunkt sind ältere Patientinnen. "Wir wissen über die Nierenfunktion im Alter sicher zu wenig, und wir wissen über die Unterschiede der Geschlechter zu wenig", sagt sie.

Ein Beispiel ist die Interpretation der Kreatinin-Werte. Sie stehen in Zusammenhang mit der Muskelmasse. "Frauen haben weniger Muskelmasse als Männer, und im Alter bauen beide Geschlechter Muskelmasse ab", erklärt sie.

"Aber unsere Formeln, die für die Nierenfunktion als Abschätzung dienen, berücksichtigen nicht immer den Rückgang der Muskelmasse." Das betrifft sowohl Frauen als auch Männer - aber in unterschiedlicher Weise. "Wir brauchen genauere Zahlen", betont Haubitz, die Mitglied im Sachverständigenrat Gesundheit ist.

Wenig Daten gibt es auch zu Osteoporose bei Dialysepatientinnen nach der Menopause. "Auch hier brauchen wir mehr Grundlagen", sagt sie. Wirbelkörper- und Hüftfrakturen zu verhindern, sind ein wichtiger Faktor zur Senkung der Mortalität bei Dialysepatienten und für die Verbesserung ihrer Lebensqualität.

"Hier spielen Hormone eine große Rolle, deshalb ist die Frage prämenopausal oder menopausal sehr wichtig", sagt sie. Das Thema Schwangerschaft und Nierenerkrankungen ist ein weiterer Schwerpunkt der Arbeitsgruppe. "Wir wollen ein Register aufbauen, an das Ärzte die Daten schwangerer Patientinnen mit Nierenerkrankungen anonym melden", sagt Haubitz.

Frauen und Männer gehen mit Krankheiten anders um. Patientinnen mit Bluthochdruck achten zum Beispiel besser auf eine gute Einstellung als Männer, erläutert sie. Gerade niedergelassene Ärzte berücksichtigten bei ihrer täglichen Arbeit natürlich das Geschlecht der Patientinnen und Patienten und haben einiges an Erfahrung.

"Aber wenn man etwas richtig gut machen will, muss man es sich bewusst machen", plädiert sie für die Auseinandersetzung mit geschlechtsspezifischen Aspekten im medizinischen Alltag.

Ein Wiki soll Wissen bündeln

Das sieht auch die Münsteraner Professorin Pfleiderer so. In Forschung und Praxis hat sich in den vergangenen Jahren viel getan, aber noch lange nicht genug, ist die Hirnforscherin überzeugt. Auch sie will das Bewusstsein für die Bedeutung des Geschlechts in der Medizin schärfen.

"Es muss selbstverständlich werden, dass auch der Einfluss des Geschlechts in Forschungsstudien ins Studiendesign integriert wird", fordert sie, die 2016 Präsidentin des Weltärztinnenbundes wird. Neben den biologischen Fakten müssten auch soziale Aspekte wie Lebensverhältnisse und soziale Rollen stärker berücksichtigt werden.

Am weitesten ist die geschlechtsspezifische Medizin in der Kardiologie. Dass die Symptome beim Herzinfarkt bei Frauen andere sind als bei Männern, ist inzwischen bekannt - sollte man meinen.

Eine Onlinebefragung ihrer Arbeitsgruppe an der Universität Münster, an der sich 1700 Studierende und etwa 800 Lehrende beteiligt haben, ergab ein anderes Bild. "Nur circa 60 Prozent der Teilnehmer haben die Fragen zu diesem Themenkomplex richtig beantwortet", berichtet Pfleiderer. "Das hat uns erstaunt."

Ein wichtiger Schritt ist die Bestandsaufnahme dessen, was es bereits gibt. "Wir planen ein Gender-Wiki, bei dem wir das vorhandene Wissen zusammentragen", sagt Pfleiderer.

Das Gender-Wiki soll nach ihren Vorstellungen nicht nur die verschiedenen Disziplinen der Medizin umfassen, sondern auch andere Fächer einbeziehen wie Kulturwissenschaften oder Soziologie. Mit Sammeln allein ist es aber nicht getan, findet Pfleiderer. "Es muss mehr in der Forschung passieren", sagt sie.

Sie hat untersucht, wie viele Arbeiten es weltweit im Bereich der funktionellen Magnetresonanzbildgebung zu den Stichworten "Cognition" und "Gender" gibt, die eine eindeutige geschlechtsspezifische Fragestellung in Bezug auf die Antwort des Gehirns in gesunden Erwachsenen auf bestimmte Aufgaben haben. Seit 2005 sind 31 Arbeiten erschienen. "Es gibt viel Nachholbedarf.", sagt sie

Frauen juckt es anders als Männer

Pfleiderer forscht auch zum unterschiedlichen Schmerzempfinden der Geschlechter - das hat große Bedeutung etwa für die Schmerztherapie. Einige Unterschiede sind biologisch bedingt, weil die Rezeptoren im Gehirn von Frauen und Männern eine unterschiedliche Sensitivität etwa für Opioide aufweisen.

Frauen reagieren stärker auf Opioide. Auch eine unterschiedliche Schmerzverarbeitung lässt sich im Hirn beobachten.

Unterschiede gibt es auch beim Juckreiz: Frauen juckt es eher an den Beinen, Männer an den Armen. Stress ist bei Frauen eher ein Trigger für Juckreizattacken als bei Männern. Ob solche Unterschiede auf erlerntes Verhalten oder die Biologie zurückgehen, vermag die Forschung nicht zu sagen.

Es komme immer auf das Wechselspiel an, sagt Pfleiderer. Deshalb ist ihr die Zusammenarbeit mit anderen Wissenschaften wichtig. "Davon können Mediziner und Medizinerinnen viel lernen", sagt sie.

Etwa wie man einen kulturellen Einfluss untersucht. "Kulturwissenschaftler wissen, wie das geht", sagt sie. "Mediziner und Medizinerinnen nicht unbedingt."

Ihre Arbeitsgruppe hat Studierende befragt, ob sie das Thema Gender-Medizin lieber in separaten Ausbildungsmodulen oder in Fächer integriert behandeln würden. "Sie haben sich gegen Module entschieden", berichtet Pfleiderer. Sie selbst hält einen integrierten Ansatz auch für besser. "Es geht darum, das Geschlecht selbstverständlich mit zu denken", sagt sie.

Dass Medizinstudierende früh dafür sensibilisiert werden, ist ein großes Anliegen der Gender-Wissenschaftlerinnen. "Sensibilisiert zu sein bedeutet, Geschlechterunterschiede im gesamten Diagnose- und Behandlungsprozess im Blick zu haben", erklärt Professorin Claudia Hornberg von der Universität Bielefeld.

Das Geschlecht immer mit im Blick haben

Auch in der Umweltmedizin haben geschlechtsspezifische Ansätze längst Fuß gefasst. "Wenn man Umwelt auch als soziale Umwelt begreift, liegt das nahe", sagt Hornberg.

Die Umweltmedizinerin und Gesundheitswissenschaftlerin leitet mit der Sozialpädagogin Marion Steffens vom Gesundheits-Netzwerk "GESINE" aus dem Ennepe-Ruhr-Kreis das "Kompetenzzentrum Frauen und Gesundheit NRW".

"Das Kompetenzzentrum ist ein Brückenkopf zwischen Wissenschaft, Praxis und Politik", sagt Hornberg.Einer der Themenschwerpunkte ist die psychische Gesundheit. Viele Frauen mit einer psychischen Erkrankung sind unterversorgt, zum Beispiel weil sie lange auf einen Therapieplatz warten müssen.

Kommt ein weiterer Faktor dazu, etwa eine Behinderung, ist die Versorgung noch schwieriger. "Das gilt zum Beispiel für gehörlose Frauen", sagt Hornberg. Denn es gibt kaum Gebärdendolmetscher, die für Übersetzungen zur Verfügung stehen. Das Kompetenznetzwerk will unterversorgte Gruppen identifizieren und mit Expertenrunden beraten, wie Versorgungslücken geschlossen werden können.

Nicht nur bei Diagnostik und Therapie, auch und gerade bei der Prävention ist der geschlechtsspezifische Ansatz hilfreich. Jungen haben häufiger Asthma als Mädchen, aber im Erwachsenenalter kehrt sich das Verhältnis um.

Stress und andere Lebensstilfaktoren sind vermutlich mit beeinflussende Faktoren. "Gerade im Hinblick auf die Prävention ist die Analyse unterschiedlicher Arbeits- und Lebensbedingungen von Frauen und Männern sehr wichtig", sagt Hornberg.

Sie plädiert dafür, den Blick auf Gesundheit, Diagnose und Therapie zu öffnen für soziale und gesellschaftliche Aspekte und so das Geschlecht immer mit im Blick zu haben: "Das ist ein Gewinn."

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