Editorial: Röslers Hürdenlauf

Liebe Leserin, lieber Leser,

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Die Ausgangsposition war gut: ein Wahlausgang nach Maß, eine Partei, die alles andere als ärztefeindlich ist und als Sahnehäubchen ein Kollege als Bundesgesundheitsminister. Der persönliche Wunschzettel des Präsidenten der Bundesärztekammer war schnell geschrieben. Die Antwort aus dem Ministerium kam prompt: Von "neuer Gesprächskultur" und gegenseitigem Vertrauen war die Rede. Entscheidungen sollten auf Grundlage von Partizipation und Mitbestimmung getroffen werden. Kurzum: Ein neues Kapitel in der Gesundheitspolitik sollte aufgeschlagen werden.

Und ein Jahr später? Oberflächlich betrachtet haben sich die Erwartungen der Ärzte erfüllt. Mit dem jüngsten Zuwachs hat das Honorar bei Haus- und Fachärzten die 30 Milliarden-Euro-Marke überschritten. Die Anerkennung des Arztberufs ist nach wie vor hoch, und der drohende Ärztemangel wird als ernsthaftes Problem (an-)erkannt.

Trotzdem rumort es bei den Ärzten, wie ein Blick in den kürzlich veröffentlichten MLP-Gesundheitsreport zeigt. Nur etwa ein Drittel der befragten Mediziner glaubt, dass die Attraktivität des Arztberufes von Dauer ist. Reglementierungen (86 Prozent) und hohe Arbeitsbelastungen (83 Prozent) führen nach Ansicht der Ärzte dazu, dass der Nachwuchs ausbleibt und Stellen in Klinik und Praxis nicht besetzt werden können. Erstaunlich dabei ist, dass die künftige Einkommenssituation als wesentlicher Parameter (82 Prozent) für diese Entwicklung genannt wird, obwohl die aktuelle Einkommenssituation - mehr von Fach- als von Hausärzten - überwiegend positiv bewertet wird. Das belegen die Fakten: Von 2004 bis heute stieg das Honorar um rund fünf Milliarden Euro.

Darüber hinaus ist die Unzufriedenheit mit den in die Jahre gekommenen ärztlichen Organisationsstrukturen groß. Hinzu kommen unterschiedliche Versorgungskonzepte, die die Ärzteschaft spalten. Ein konkretes Beispiel ist die aktuelle Forderung vieler Ärzte in Bayern, aus dem GKV-System auszusteigen. Ob sich mit einem Ausstieg alle Probleme von selbst lösen, ist eine Rechnung mit vielen Unbekannten. Vieles spricht dafür, dass die Reformkraft für neue ärztliche Organisationsstrukturen von innen kommen muss.

Und was sagt die Politik zu alledem? In Bayern hat man sich lange zurückgehalten und erst jetzt, nachdem die AOK den Vertrag fristlos gekündigt hat, die Hausärzte vor dem Ausstieg gewarnt. Wenig überzeugend ist auch das halbherzige Vorgehen in Berlin bei den Hausarztverträgen. Einerseits will das FDP-geführte Bundesgesundheitsministerium den Wettbewerb, andererseits wird die Vielfalt eingeschränkt, indem Selektivverträge mit Bürokratie überfrachtet werden.

Stichwort Berlin: Das junge Team um Philipp Rösler hat sehr früh die bittere Erfahrung machen müssen, wie schwer es ist, die unterschiedlichen Interessen der Akteure unter einen Hut zu bringen. Das hat stark am Selbstverständnis der Partei gekratzt. Die FDP musste sich schleunigst von der Rolle als "Partei der Selbstständigen und Freiberufler" verabschieden. Der Mannschaft war offenbar auch nicht bewusst, dass der Handlungsspielraum des Gesundheitsministeriums im Unterschied zu anderen Ministerien - vor allem in puncto Sanktionen - extrem begrenzt ist. Eine Erkenntnis in der Startphase war: Mit überschaubarer gesundheitspolitischer Expertise lassen sich echte Strukturreformen kaum realisieren.

Das Bild vom Hürdenläufer Rösler, das sich durch diese Ausgabe der "Ärzte Zeitung" wie ein roter Faden zieht, beschreibt das Handeln der vergangenen 14 Monate. Der ambitionierte FDP-Youngster musste zunächst mit der personellen Besetzung seiner Vorgängerin auskommen. Dann die permanenten Sticheleien aus Bayern. Am Ende war Rösler auf die Unterstützung der Kanzlerin angewiesen.

Relativ galant übersprang der Minister die Hürde Arzneimittelspargesetz. Neben reinen Kostendämpfungs-Mechanismen (Preismoratorium und Zwangsrabatt) versuchte Rösler mit der Nutzenbewertung und der Abschaffung der freien Preisbildung bei denen zu punkten, die ihm und seiner Partei eine zu große Nähe zur Industrie nachgesagt hatten. Die Kommentare in den Medien reichten von "Gut gemacht, Rösler!" bis hin zu "Sieg der Lobbyisten".

Deutlich schwieriger und höher war die Hürde GKV-Finanzierungsgesetz. Der Dauerprotest aus München hatte hier fast ein gesamtes Gesetzgebungsverfahren lahmgelegt.

Rösler wird auch im neuen Jahr ein gehetzter Minister bleiben. Dafür sorgt allein schon die Agenda. In der Pflege ist koalitionsinterner Knatsch programmiert. Wieder ist es die CSU, die nichts von Röslers Plänen einer individuellen kapitalgedeckten Zusatzversicherung hält. In der Frage der Finanzierung ist Rösler vorerst zurückgerudert. Die Neudefinition des Pflegebedürftigkeitsbegriffs und der eklatante Mangel an Fachkräften rücken damit in den Mittelpunkt.

Eine richtig hohe Hürde steht Rösler beim geplanten Versorgungsgesetz bevor. Hier geht es längst nicht mehr nur um Honorargerechtigkeit und Bedarfsplanung. Hier geht es um die Konzeption für eine dauerhaft gesicherte Krankenversorgung. Dazu gehören eine Reform des Medizinstudiums, eine neue ambulante, teil- und vollstationäre Versorgung sowie eine engere Verzahnung von Kranken- und Altenpflege.

In unserer Jahresendausgabe haben wir den Hürdenlauf von Philipp Rösler analysiert, seine Leistungen reflektiert und neue Herausforderungen definiert. Ein spannendes Jahr 2011 steht uns bevor.

Ich wünsche Ihnen besinnliche Weihnachten sowie ein erfolgreiches und gesundes Jahr 2011, Ihr Wolfgang van den Bergh, Chefredakteur der "Ärzte Zeitung"

Zur Jahresendausgabe 2010 der "Ärzte Zeitung" mit allen Artikeln

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