Vernetzung aus Ärztehand

Datenstrom bricht Sektorengrenzen auf

Datenbrüche zwischen Haus- und Facharzt? Im Praxisnetz München West und Umgebung gibt es das schon seit Jahren nicht mehr. Das Netz nutzt eine elektronische Patientenakte, die sogar den E-Arztbrief überflüssig macht. Just zum Dezember wurde nun auch die erste Klinik an den Datenstrom angeschlossen.

Rebekka HöhlVon Rebekka Höhl Veröffentlicht:
Pneumologe Dr. Stefan Heindl vom Praxisnetz München West erklärt einer Patientin die vernetzte Patientenakte.

Pneumologe Dr. Stefan Heindl vom Praxisnetz München West erklärt einer Patientin die vernetzte Patientenakte.

© Praxisnetz München West und Umgebung

Noch bevor der Patient die Facharztpraxis verlässt, sind aktuelle Diagnosen (AD), laufende Medikationsdaten (LM) und eine Befundzusammenfassung (ZUS) beim Hausarzt – als strukturierte Daten, eingespielt in die elektronische Patientenakte (E-Akte). Was für viele Ärzte im Zeitalter des Wartens auf eine Telematikinfrastruktur wie Science Fiction klingt, ist im Praxisnetz München West und Umgebung e.V. Alltag. Mit nur drei Mausklicks kann zusätzlich zum automatisierten Behandlungsdatenaustausch jeder beliebige Karteikarteneintrag an Kollegen geschickt werden.

2011 legten die ersten Praxen los

Um diesen Grad der Vernetzung zu erreichen, hat das Ärztenetz einiges investiert – nicht zuletzt viel Überzeugungsarbeit von Vorstand und Netzbüro. Denn das leidige Thema der fehlenden einheitlichen IT-Schnittstellen für den schnellen Datenaustausch zwischen Praxen mussten auch die Münchener Ärzte lösen. "Wir wollen keine parallelen Applikationen haben", sagt der Pneumologe und Netz-Vorstandsvorsitzende Dr. Stefan Heindl.

2011 starteten die Ärzte ihr elektronisches Vernetzungsprojekt: Dabei hat sich das Münchener Netz nicht nur für eine zusätzliche Netzsoftware, nämlich x.comdoxx des Software-Anbieters medatixx entschieden. Die Ärzte sind auch auf eine einheitliche Praxissoftware umgestiegen, damit die Daten unkompliziert in die Patientenakte einlaufen, aber auch von dort ausgelesen werden können. Natürlich ist so eine Komplett-Umstellung der Praxis-EDV nicht auf Knopfdruck erledigt. "Wir haben 2011 mit ein paar wenigen Praxen begonnen, mittlerweile sind 60 Praxen vernetzt", berichtet Netz-Geschäftsführer Christian Brucks. Insgesamt zählt das Netz 103 Praxen mit 262 Ärzten. Die Umstellung haben die Ärzte selbst getragen. Brucks: "Die Spanne bei den Investitionen lag zwischen 1500 und 40.000 Euro für unsere größten Praxen." Dafür sind nun alle Praxen, die aktiv am Selektivvertrag des Netzes mit der AOK Bayern teilnehmen, tatsächlich elektronisch vernetzt. Das hat den Vorteil, dass für diese Patienten der Datenaustausch zu allen wichtigen Informationen vollautomatisch im Hintergrund abläuft.

Ein Vernetzungsgrad, der sich nun doppelt auszahlt: "Allein der manuell angestoßene Datenaustausch führt bei den vernetzten Praxen zu einer Zeitersparnis von 20 bis 30 Prozent", so Brucks. Das liege daran, dass die Medizinischen Fachangestellten keine Zeit mehr am Faxgerät verbringen, keine Nummern mehr eingeben sowie keine Übermittlung prüfen müssten und vor allem auch daran, dass keine per Fax erhaltenen Behandlungsdaten umständlich gescannt und dann in die Karteikartei des jeweiligen Patienten manuell eingefügt werden müssten. Das alles dauert in den vernetzten Praxen weniger als 20 Sekunden, berichten Heindl und Brucks.

E-Notfalldaten einmal anders

Die bereits im Netz versandten Daten sind aber auch eine gute Vorarbeit für den direkten Austausch mit Kliniken. Während bundesweit noch auf den Notfalldatensatz und die Anbindung des stationären Sektors an den Medikationsplan (der erst 2019 als elektronische Variante kommen soll) gewartet wird, haben die Münchener Netzärzte Anfang Dezember ihren Datenserver für den Austausch von Notfalldaten mit der ersten Klinik in Betrieb genommen. "Wir haben uns für den Start für die Helios Kliniken als Partner entschieden, weil der Klinikkonzern bereits mit medatixx zusammenarbeitet", sagt Heindl. Die Helios Klinik München Pasing ist das erste Haus, das an den Datenstrom angeschlossen wurde. Das Netz hat sich vorab mit den Notfallmedizinern ausgetauscht, welche Daten für die Klinikärzte interessant sind. Heindl: "Es sind genau unsere Behandlungsdaten: also aktuelle Diagnosen, laufende Medikation und Befundzusammenfassung." Zusätzlich wünsche sich die Klinik noch die Übermittlung der Kontaktdaten von Angehörigen/Ansprechpartner des aufgenommenen Patienten. Hierzu erabeitet gerade eine Arbeitsgruppe, wie diese Daten automatisiert mitübermittelt werden können. Auch die Netzärzte erhalten die Behandlungsdaten elektronisch vom Klinikum zurückgespielt. "Das ist der Einstieg für zeitgemäßes Entlassmanagement", ist sich Brucks sicher. Als weiteres Projekt steht die Anbindung von Pflegeheimen und der am Helios Klinikum Pasing vom Praxisnetz München West betriebenen Bereitschaftspraxis an, so Brucks.

Ein wesentliches Merkmal der EDV-Vernetzung ist, dass die Patientendaten in dem Netz nie zentral auf einem Server gespeichert werden, sie verbleiben in den einzelnen Praxen. Die Vernetzung – auch mit der Klinik – läuft über einen sogenannten Key Server, der den Schlüssel für den chiffrierten Datentransfer liefert, und über den Datenaustausch via Virtual Private Network (VPN).

Big Data im Kleinen

Seit 2015 ist das Praxisnetz auch in der Lage, eigene Versorgungsdaten auszuwerten. Die Auswertung diene unter anderem der Verbesserung der Versorgungsqualität und der Steigerung der Effizienz, erklären Heindl und Brucks. Hierfür wurde mit eigenen Mitteln das netzinterne Controlling Tool CPS (ComdoxxPatientenStatistik) entwickelt. Mit Hilfe von CPS werden bestimmte Qualitätsindikatoren ausgewertet und etwa mit Auswertungen des IV-Vertragspartners der AOK-Bayern verglichen. Im Rahmen von Qualitätszirkeln finden auf der Grundlage der praxisindividuellen Versorgungsdaten ergebnisorientierte Interventionen statt. Jede Praxis erhält für jedes Quartal eine Auswertung und kann so bei jedem Patienten die Versorgung überprüfen. Dieses Konzept hat sich laut Heindl und Brucks bewährt, beide bezeichnen es als eine Art digitale Fallkonferenz.

Zusätzlich hat das Netz eigene Versorgungsleitlinien samt ihrer Behandlungspfade aufgelegt – auch diese sind elektronisch über die Patientenakte verfügbar. Es zeige sich eben immer wieder, dass Leitlinien nicht angewendet werden könnten, "weil gerade multimorbide Patienten darin nicht vorkommen", so Heindl. Wenn man solche Fälle in den Qualitätszirkeln bespreche, schaffe das auch bei den Ärzten mehr Sicherheit. "Ärzte haben eine große Angst vor Rechtsstreitigkeiten, auch wenn diese recht selten vorkommen. Wir wollen ihnen diese Angst nehmen", so der Pneumologe

Besonders stolz ist das Netz auf seine neueste Leitlinie zur Polypharmazie. "Wir hatten zwar schon vorher eine Beratungsziffer im Selektivvertrag", berichtet Heindl. Darüber hätte man aber lediglich gesehen, welcher Arzt die Ziffer abgerufen habe. Mit der neuen Leitlinie will das Netz noch mehr Sensibilität schaffen: Über einen kurzen Fragebogen – mit nur fünf Fragen – dokumentieren die Ärzte, ob sie die Multimedikation tatsächlich geprüft haben und eventuell auf Arzneien verzichtet werden kann. Heindl: "Wir stellen niemanden an den Pranger." Solche Auswertungen würden aber auch in den Qualitätszirkeln besprochen, gerade um zu sehen, warum es manchmal sinnvoll ist, von externen Leitlinien oder Qualitätszielen abzuweichen. Oder um Argumente für das Gespräch mit Patienten, Angehörigen und Vertragspartnern gemeinsam zu erarbeiten.

Die Daten für die Analysen werden automatisch und immer pseudonymisiert aus den Patientenakten ausgelesen. "Voraussetzung hierfür ist, dass die Praxen ihren Praxisserver nicht ausschalten", sagt Brucks. Der Arzt erhält dann auf seiner Auswertung Patientennummern, die nur er selbst bestimmten Patienten zuordnen kann.

"Wir freuen uns", so Brucks, "dass mit den einzelnen Modulen der netzeigenen Vernetzung nun die ersten Erfolge im Bereich Versorgungsqualität und Wirtschaftlichkeit erreicht wurden. Der hohe Grad der digitalen Vernetzung deckt derzeit bereits alle Bereiche ab, die mit dem E-Health-Gesetz in den nächsten Jahren erreicht werden soll." Die geschaffenen Strukturen zur Auswertung von Daten für die Steuerung der regionalen Versorgung würden seit einigen Wochen sogar von einem weiteren Netz genutzt, berichtet er.

Vernetzungs-Check

» 103 Haus- und Facharztpraxen mit 262 Ärzten arbeiten im Ärztenetz München West und Umgebung zusammen.

» 60 Praxen, die sich zum Netzwerk Münchener Ärzte Gesundheit und mehr e.G. zusammengeschlossen haben, sind bereits komplett elektronisch vernetzt.

» Eine E-Patientenakte sorgt im Netz für den schnellen Datenaustausch.

» Seit Dezember ist die Helios Klinik München Pasing an den Datenstrom angeschlossen, es werden Diagnosen, laufende Medikation und eine Befundzusammenfassung übermittelt.

Lesen Sie dazu auch: Praxisnetz München West: Hier ist das E-Health-Gesetz schon Realität Vertreterversammlung: KBV will Ende der Fristen fürs E-Health-Gesetz 2 Krankenkassen: Elektronische Patientenakten im Wettbewerb?

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