Warum die Politik mit der Pflege überfordert ist

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Auf Deutschland rollt eine Pflege-Lawine zu: Immer mehr Menschen werden im Alter auf Hilfe angewiesen sein. Doch der Pflege-Bahr wird daran nichts ändern, erklärt eine Expertin im Video-Interview - er sei schlicht unehrlich.

Von Tobias Meyer

BERLIN. Vertreter der Regierungskoalition haben den sogenannten "Pflege-Bahr" gegen anhaltende Kritik verteidigt.

Das Vorhaben von Union und FDP, die freiwillige private Vorsorge einkommensunabhängig mit monatlich fünf Euro staatlich zu fördern, sei ein "beachtenswerter erster Einstieg" in die Kapitaldeckung in der Pflege, sagte Unions-Gesundheitsexperte Stephan Stracke beim "Hauptstadtkongress" in Berlin.

Die Pflegezusatzversicherung obligatorisch, das heißt verpflichtend für alle Beitragszahler in der gesetzlichen Pflegeversicherung einzuführen, hätte den Staatshaushalt finanziell überfordert und sei nicht zu machen gewesen.

Die Bundesregierung rechnet damit, dass zu Beginn der staatlichen Pflegeförderung rund 1,5 Millionen Verträge über eine zusätzliche private Versicherung geschlossen werden.

Für den Zuschuss sind rund 90 Millionen Euro im Bundeshaushalt veranschlagt. Opposition, Krankenkassen und Sozialverbände hatten die Pläne der Koalition in der Luft zerrissen und als "beschämenden Unsinn" und "Geschenk für die Versicherungswirtschaft" bezeichnet. Profitieren davon würden nur Wohlhabende.

Staat mit der Pflege-Absicherung überfordert

Unions-Experte Stracke gestand zu, es sei ein "Fehler" gewesen, dass der Gesetzgeber nicht schon unmittelbar nach dem Start der gesetzlichen Pflegeversicherung im Jahr 1995 eine kapitalgedeckte Säule in den neuen Sozialversicherungsbereich eingezogen habe. Dadurch sei viel Zeit verpasst worden, so Stracke.

Dr. Stefan M. Knoll, Vorstand der Deutschen Familienversicherung AG, die auch private Zusatzversicherungen im Bereich Pflege anbietet, rief den Gesetzgeber zu mehr Ehrlichkeit bei dem Thema auf.

Bis heute hätten die Parteien es versäumt, den Bürgern offen zu sagen, dass der Staat mit der Aufgabe der Absicherung im Pflegefall überfordert sei. "Daran ändert auch der Pflege-Bahr nichts", sagte Knoll.

Allenfalls werde dadurch ein "Bewusstseinswandel in der Gesellschaft angestoßen". Mit der Pflege rolle die größte "gesellschaftspolitische Aufgabe" auf Deutschland zu. "Das aber ist noch nicht in die Köpfe vorgedrungen", monierte Knoll.

Jeder vierte Schulabgänger in der Pflege

Die frühere, langjährige Präsidentin des Deutschen Pflegerats, Marie-Luise Müller, verlangte von der Bundesregierung eine konzertierte Aktion Pflege. Bislang legten einzelne Ministerien einzelne Projekte auf, um mehr für Pflege und Pflegende zu tun.

"Es gibt darüber aber zu wenig Kommunikation zwischen den Ressorts." Zudem werde die Pflege in der öffentlichen Debatte noch immer als "Kosten- und nicht als Erfolgsfaktor" gesehen.

"Ohne Pflege ist der alte Mensch aber wie ein Auto ohne Räder", betonte Müller, die auch Pflegedirektorin am Klinikum Soest ist.

Gedanken müssten sich Gesellschaft und Politik, aber auch die Pflegebranche darüber machen, "wo die Menschen sind, die kranke und multimorbide Patienten von morgen pflegen", forderte Peter Bechtel, Vorsitzender des Bundesverbandes Pflegemanagement.

Die Überalterung betreffe nicht nur Patienten und Pflegebedürftige. "Auch wir Pflegekräfte sind vom demografischen Wandel betroffen." Viele Kollegen gingen in absehbarer Zeit in den Ruhestand, der Nachwuchs rücke nicht ausreichend nach.

2025 müsse etwa jeder vierte Schulabgänger eine Ausbildung in der Pflege machen, "um die Versorgung aufrecht erhalten zu können", rechnete Bechtel vor.

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