Arzneimittel

Beschleunigte Zulassung im Fokus

Pharmahersteller nutzen verstärkt Verfahren der beschleunigten Zulassung, um Innovationen auf den Markt zu bringen. AkdÄ-Chef Professor Wolf-Dieter Ludwig sieht das kritisch. Er empfiehlt Ärzten, ihre Patienten auch über die damit verbundenen Risiken aufzuklären.

Von Susanne Werner Veröffentlicht:

BERLIN. Etwa jedes dritte neue Arzneimittel hat 2016 über ein beschleunigtes Zulassungsverfahren den deutschen Markt erreicht. 2011 lag die Quote noch bei unter sechs Prozent. Professor Wolf-Dieter Ludwig, Vorsitzender der Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft (AkdÄ), rät, auch die damit verbundenen Risiken bei der ärztlichen Behandlung im Blick zu behalten: "Wenn Arzneien in ihrer Sicherheit und Wirksamkeit noch nicht umfassend geprüft sind, können sie auch eine Gefahr für die Patienten sein." Jüngst hat Ludwig gemeinsam mit Professor Ulrich Schwabe und dem Wissenschaftlichen Institut der AOK (WIdO) den Arzneiverordnungs-Report 2017 veröffentlicht (wir berichteten). Die kritische Auseinandersetzung mit den beschleunigten Zulassungsverfahren ist darin eines der zentralen Themen.

48 Wirkstoffe in sechs Jahren

Pharmafirmen in Europa und den USA nutzen beschleunigte Zulassungsverfahren seit Jahren intensiv. In Deutschland wurden von 2011 bis 2016 insgesamt 48 Wirkstoffe über beschleunigte Verfahren zugelassen – allein 20 davon in der Onkologie. Die beschleunigten Verfahren heben jedoch keineswegs die Pflicht auf, einen evidenzbasierten Nachweis der Wirksamkeit und Sicherheit vorzulegen, sondern setzen lediglich eine andere Priorität. Weitere aussagekräftige Daten zum Nutzen beziehungsweise zu den Risiken der Arzneimittel müssen dann nach der beschleunigten Zulassung der Europäischen Arzneimittel-Agentur (EMA) vorgelegt werden.

Genau da setzt jedoch die Kritik von AkdÄ-Chef Ludwig an. Denn nach Angaben der EMA konnte bislang nur bei elf von 30 bedingten Zulassungen zwischen 2006 und 2016 das Nutzen-Risiko-Verhältnis abschließend geklärt werden, sodass eine reguläre Zulassung erfolgt ist. Für die anderen sei nach wie vor das Nutzen-Risiko-Verhältnis unklar. Ludwig kritisiert auch, dass sich die Pharmahersteller im Durchschnitt vier Jahre Zeit lassen, alle geforderten Auflagen zu erfüllen. "Die Behörden müssen darauf drängen, dass alle Daten in den ersten drei Jahren nach der beschleunigten Zulassung erbracht werden", sagt er. Seiner Ansicht nach sollten die Behörden dies intensiver kontrollieren sowie Sanktionen aussprechen, wenn der Zeitrahmen überschritten wird.

Die Grundidee ist gut

Die eigentliche Idee der beschleunigten Zulassungsverfahren leuchtet unmittelbar ein. Neue, innovative Arzneien sollen vor allem jenen Menschen helfen, die bereits schwer erkrankt sind und für deren Behandlung nur wenige medikamentöse Therapieoptionen verfügbar sind. Für diese können früher verfügbare Arzneien möglicherweise noch die Rettung bedeuten.

Die Zulassungsbehörden hatten diese speziellen Patientengruppen im Blick, als sie vor rund 20 Jahren in Europa verkürzte Zulassungsverfahren auf den Weg gebracht haben. So sollte bei Bedarf der Zugang zum Markt für innovative Therapeutika geebnet werden, auch wenn die erforderlichen klinischen Daten noch unvollständig waren. Zentral für die Zulassung ist die Beurteilung des Wirksamkeit-Risiko-Verhältnisses: Der Nutzen für die öffentliche Gesundheit, der mit der sofortigen Verfügbarkeit des Arzneimittels verbunden ist, muss das Risiko überwiegen, das durch die noch fehlenden Daten gegeben ist. "Bedingte Zulassungen" – eine Form der beschleunigten Verfahren – sind etwa dann möglich, wenn die neuen Wirkstoffe vor einer schweren Invalidität oder einer lebensbedrohlichen Erkrankung schützen oder auch in Krisensituationen die öffentliche Gesundheit sichern.

Ein Fonds für Studien

Ludwig spricht sich weiter dafür aus, die nötigen Studien nach einer beschleunigten Zulassung möglichst vom jeweiligen Arzneihersteller abzukoppeln. Die Idee des AOK-Chefs Martin Litsch, einen "firmenübergreifenden und pharmaunabhängigen Finanztopf" zu schaffen, begrüßt er ausdrücklich: "Ich unterstütze das uneingeschränkt." Wichtig sei jedoch, dass ein gemeinsamer Fonds von allen Beteiligten getragen werde.

Aus Sicht eines schwerkranken Patienten sei es, so Ludwig, durchaus nachvollziehbar, dass dieser schnellstmöglich mit einem potenziell erfolgversprechenden neuen Medikament behandelt werden will. Die behandelnden Ärzte aber stecken damit in einem Dilemma. Wenn sie beschleunigt zugelassene Arzneimittel verordnen, nähmen sie eine erhebliche Unsicherheit hinsichtlich des klinischen Nutzens und der Risiken in Kauf. Ludwig empfiehlt den Ärzten, die Patienten in diesen Fällen umfassend auch auf die Gefahren einer solchen Medikation hinzuweisen und, falls vorhanden, auch andere Behandlungsoptionen mit ihnen zu besprechen.

Arzneiverordnungs-Report 2017

- Der Arzneiverordnungs- Report erscheint jährlich. Darin kommentieren Experten aus Pharmakologie, Medizin und Wirtschaft das ärztliche Verordnungsverhalten und stellen Verordnungstrends dar.

- Die Experten beschäftigen sich außerdem immer mit einem Schwerpunktthema des Arzneimittelmarktes, in diesem Jahr mit den beschleunigten Zulassungsverfahren.

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