Untersuchung

Die Versorgungshürden von Geflüchteten

Wie ist es um den Gesundheitszustand von Geflüchteten in Deutschland bestellt? Und wie gelingt die Kommunikation zwischen diesen Patienten und ihren Ärzten? Das Wissenschaftliche Institut der AOK (WIdO) hat die Situation untersucht.

Von Taina Ebert-Rall Veröffentlicht:

BERLIN. Über die gesundheitliche Situation von Geflüchteten in Deutschland liegen bisher nur unzureichende Erkenntnisse vor. Zugleich ist eine gute Gesundheitsversorgung auch für das Gelingen der Integration in die Gesellschaft wichtig. Vor diesem Hintergrund hat das Wissenschaftliche Institut der AOK (WIdO) untersucht, welche Gesundheitsbeschwerden Geflüchtete haben und wie sie sich in unserem Gesundheitssystem zurechtfinden. Ein Ergebnis: Wenngleich das Bildungsniveau vieler Geflüchteter beispielsweise aus Syrien relativ hoch ist, haben sie es wegen sprachlicher Barrieren schwer, sich beim Arzt verständlich zu machen.

Für die Untersuchung hat das WIdO bundesweit 2021 Geflüchtete aus Syrien, dem Irak und Afghanistan befragt. Aus diesen Ländern stammten zwischen Januar 2015 und Mai 2018 mehr als die Hälfte aller Erstasylanträge. Alle Befragten waren mindestens 18 Jahre alt, erst bis zu zwei Jahre in Deutschland und lebten noch in Aufnahmeeinrichtungen.

Chronische Erkrankungen seltener

Die Ergebnisse zeigen, dass die Geflüchteten aus den befragten Herkunftsländern eher jung (Durchschnittsalter: 32,7 Jahre) und überwiegend männlich sind (Anteil der Männer: 67,1 Prozent). Knapp die Hälfte der Befragten ist in ihrem Herkunftsland mehr als neun Jahre zur Schule gegangen, was der Pflichtschulzeit dieser Länder entspricht. 57,4 Prozent sind im Herkunftsland einer bezahlten Beschäftigung nachgegangen, jeder Sechste ging zur Schule oder hat studiert (16,3 Prozent), elf Prozent waren Handwerker.

Beim Gesundheitszustand zeigte sich, dass die Geflüchteten seltener als die vergleichbare deutsche erwachsene Wohnbevölkerung chronisch erkrankt sind. Gleichzeitig schätzten sie ihren eigenen Gesundheitszustand subjektiv deutlich schlechter ein als die Vergleichsgruppen. „Auch wenn nur vergleichsweise jüngere, gesunde Menschen die Belastungen einer Flucht auf sich genommen haben, drückt sich ihre spezifische Situation in Deutschland auch in der individuellen Einschätzung ihrer Gesundheit aus“, sagt der Mitautor der Studie und stellvertretende WIdO-Geschäftsführer Helmut Schröder.

So könnten Ängste und Sorgen angesichts der Situation in der Heimat sowie räumliche Enge, belastende Lautstärke und mangelnde Privatsphäre in den Erstaufnahmeeinrichtungen, der oft von Langeweile geprägte Alltag in den Unterkünften oder die Unwissenheit über die eigene Zukunftsperspektive die subjektive Einschätzung des eigenen Gesundheitszustands negativ beeinflussen.

Ein Drittel mit Gesundheitskarte

Das WIdO fragte auch danach, wie die Geflüchteten die medizinische Versorgung in Deutschland erlebt beziehungsweise in Anspruch genommen haben. So haben zwei Drittel in den letzten sechs Monaten einen Arzt aufgesucht (68,3 Prozent), überwiegend wegen allgemeiner Gesundheits- und Vorsorgeuntersuchungen sowie wegen akuter leichter Erkrankungen. Dabei haben es Geflüchtete mit unterschiedlichen Zugangsmöglichkeiten zur medizinischen Versorgung zu tun: Ein Drittel konnte wie die Versicherten der gesetzlichen Krankenversicherung eine elektronische Gesundheitskarte für den Arztbesuch nutzen, knapp 40 Prozent mussten sich zuerst einen Behandlungsschein besorgen. Dabei zeigt sich, dass Patienten mit Gesundheitskarte eine größere Zufriedenheit mit der Behandlung und dem Behandlungserfolg äußern.

Zum Hausarzt oder in die Klinik?

In der Arztpraxis oder im Krankenhaus waren sprachliche Barrieren eine große Herausforderung. Mehr als jeder zweite Geflüchtete (56 Prozent) berichtete über große Schwierigkeiten, sich verständlich zu machen. Ähnlich hoch (51 Prozent) war der Anteil derer, die nicht wissen, welche Gesundheitsangebote ihnen überhaupt zur Verfügung stehen. Gut die Hälfte der Befragten fand es schwierig, herauszufinden, ob er mit seinem Anliegen in eine Arztpraxis oder in ein Krankenhaus gehen sollte. Schröder: „Es erscheint auch nicht überraschend, dass gerade von chronisch kranken Geflüchteten, die auf medizinische Versorgung angewiesen sind, der Zugang zu Gesundheitsinformationen noch schlechter bewertet wird.“

Die meisten Schutzsuchenden aus Syrien, dem Irak und Afghanistan, die Angaben zu traumatischen Ereignissen gemacht haben, gaben Kriegserlebnisse (60,4 Prozent) oder Angriffe durch Militär oder Bewaffnete (40,2 Prozent) an. Bei jedem Dritten (34,8 Prozent) sind Angehörige oder nahestehende Personen verschleppt worden, verschwunden oder gewaltsam ums Leben gekommen. Nur weniger als ein Viertel (22,5 Prozent) der Befragten hat keine dieser traumatischen Erfahrungen selbst erlebt.

Mehrfachtraumatisierungen sind dagegen häufig: 16,3 Prozent aller Befragungsteilnehmer gaben nur ein Trauma an, 15,1 Prozent berichteten von zwei Traumata und 33,2 Prozent gaben drei und mehr Traumata an.

Vor allem psychische Beschwerden

Im Vergleich zu Geflüchteten, denen diese Erfahrungen erspart geblieben sind, berichten Geflüchtete mit traumatischen Erfahrungen mehr als doppelt so häufig über körperliche und psychische Beschwerden. Dabei treten vor allem psychische Beschwerden wie Mutlosigkeit, Traurigkeit, Bedrückung (42,7 Prozent) sowie Nervosität und Unruhe (42,9 Prozent) auf. Erst danach folgen körperliche Beschwerden wie Rückenschmerzen (36,6 Prozent) oder Kopfschmerzen (36,4 Prozent).

Um den Schutzsuchenden zu helfen, sollten sie aus Sicht der Studienautoren vom ersten Tag in Deutschland an umfassenden Zugang zu medizinischer Versorgung erhalten. Dafür müssten auch sprachliche Hemmnisse abgebaut und psychotherapeutische Angebote in der Traumabehandlung vorgehalten werden. Hilfreich könnte es sein, geflüchtete Ärzte und Psychotherapeuten möglichst gezielt ins deutsche Gesundheitssystem einzugliedern oder ambulante Schwerpunkteinrichtungen mit Spezialisten zur Traumabehandlung helfen zu lassen, so die Autoren. „Neben einem sicheren Aufenthaltsstatus, einer passenden Unterkunft, sinngebender Beschäftigung und Freizeitangeboten kann Geflüchteten ein niedrigschwelliger Zugang zum Gesundheitssystem helfen, ihre gesundheitlichen Probleme besser zu bewältigen,“ fasst Schröder zusammen.

Der „WIdO monitor“

» 2021 Geflüchtete aus Syrien, dem Irak und Afghanistan hat das Wissenschaftliche Institut der AOK (WIdO) zu ihrer gesundheitlichen Ausgangssituation und ihrem Zugang zur Versorgung befragt.

» Zwei Drittel hatten in den letzten sechs Monaten in Deutschland einen Arzt aufgesucht.

Weitere Infos unter:

www.wido.de/

Lesen Sie dazu auch: Interview: „Das ist eine Wahnsinns-Herausforderung für Ärzte“

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