"Einigungsvertrag steht im Bücherschrank"

Die besten Jahre seines Berufslebens hat der ehemalige Staatssekretär Herwig Schirmer als AOK-Chef im wiedervereinigten Berlin erlebt.

Von Herwig Schirmer Veröffentlicht:

Mit jetzt 71 Jahren weiß ich natürlich, wie unsicher man ist, wenn es gilt, sich an das Geschehen an einem bestimmten, lange Zeit zurückliegenden Tag zu erinnern. Im privaten Bereich gelingt das etwa bei den Gedanken an die eigene Hochzeit oder die Geburt der Kinder. In der Politik hingegen verblasst, wie ich aus über 40 Jahren politiknaher Arbeit und Staatssekretär a. D. weiß, schnell fast alles.

Beim Bau der Mauer am 13. August 1961 und dem Fall der Mauer am 9. November 1989 ist das völlig anders. Beim Bau der Mauer weiß ich auf Anhieb, dass ich das Geschehen aus der Ferne auf dem Zeltplatz in Milano Marittima erlebte, wohin ich als eher bescheiden ausgestatteter Student meiner späteren Frau in den Urlaub gefolgt war. Beim Fall der Mauer 28 Jahre später hatte ich eine Familie mit drei Kindern und war um 26 Jahre Erfahrung im Bereich Arbeit, Gesundheit und Soziales bei Bund und Ländern reicher.

Seit dem 1. Oktober 1989 wieder in Berlin

Blick in die Küche der Leipziger Uniklinik: Der Bauzustand ist katastrophal - allein das Gesundheitswesen braucht Milliarden-Investitionen.

Blick in die Küche der Leipziger Uniklinik: Der Bauzustand ist katastrophal - allein das Gesundheitswesen braucht Milliarden-Investitionen.

© Foto: dpa

Ein glückliches Schicksal hatte mir zum 1. Oktober 1989 die Geschäftsführung der AOK Berlin beschert. Für diese Aufgabe kam ich von Bremen nach Berlin zurück und war wieder mit meiner Familie vereint. In der AOK Berlin war ich natürlich trotz meiner langjährigen Erfahrungen der "Neue" und musste zeigen, dass ich mich schnell und erfolgreich in die schwierigen Kostenstrukturen einarbeiten konnte.

Den wichtigsten Kostenblock bildeten natürlich die Krankenhauskosten, die mauerbedingt generell zu hoch waren. Darüber hinaus landeten diese Kosten bei den alten Versicherten wegen der in den ersten Jahren der Nachkriegszeit in Berlin bestehenden Einheitsversicherung fast zu 100 Prozent bei der AOK Berlin. lch wurde deshalb für die im Oktober 1989 anstehende Pflegesatzrunde ganz besonders intensiv vorbereitet. Wir luden dann die anderen Kassenarten und die Berliner Krankenhausgesellschaft mit ihren wichtigsten Mitgliedern zum ersten Verhandlungstermin ein. Der Zufall wollte es, dass dieser Termin auf den Nachmittag des 9. November 1989 fiel.

In die Sitzung platze die Nachricht: Die Mauer ist auf!

Die Sitzung fing an, wie solche Sitzungen anzufangen pflegen. Ich beklagte die desolate Finanzsituation und dass die AOK Berlin über 40 Prozent ihrer Ausgaben für Krankenhäuser ausgebe. Mir traten die anderen Krankenkassenverbände bei.

Die Berliner Krankenhausgesellschaft und naturgemäß ihre starken Mitglieder bezogen mit Vehemenz ihre Positionen, die damals noch alle vom Umlageprinzip geprägt waren. Ich brachte die Notwendigkeit individueller statt Gesamtpflegesatzrunden ins Gespräch und merkte deutlich, dass sich eine ermüdende und festgefahrene Diskussion ergab, die nur ein neuer Impuls lösen konnte. Ich rang noch mit mir über den hierfür richtigen Weg, als die Tür aufging und ein Mitarbeiter mit der Botschaft eintrat: "Die Mauer ist auf!"

Erst Pflegesätze vereinbart -dann den Mauerfall gefeiert

Die Runde brach sofort in hellen Jubel aus, wie er nur bei Menschen entstehen konnte, die die vielen Jahre des Eingemauertseins erlebt haben. Ich ergriff die sich mir bietende Chance und bat mit folgenden Worten um Ruhe: "Meine Damen und Herren, nach dieser wunderbaren Botschaft haben wir nur zwei Möglichkeiten: Entweder wir brechen unsere Verhandlungsrunde hier jetzt ab und gehen zur Mauer oder wir kommen schnell zu einem Ergebnis und feiern dann an der Mauer. Ich bin für den zweiten Weg, weil jedenfalls feststeht, dass wir auch nach dem Fall der Mauer Pflegesätze brauchen."

Man folgte mir spontan. Alle waren frohen Mutes und freudig gestimmt. Es gab einen fairen Kompromiss und die wichtigsten Eckdaten der Pflegesatzvereinbarung standen fest. Alle strömten dann schnell auseinander, um von dem historischen Ereignis nichts zu verpassen.

Ich ging noch einmal kurz in mein Büro und überlegte: Jetzt kann es tatsächlich zu einer "unblutigen" Wiedervereinigung kommen, von der wir als junge Assessoren - ich hatte 1966 im Bundesversicherungsamt in Berlin angefangen - nicht zu träumen wagten. Jetzt musst du, sagte ich zu mir, mit allen Kräften, die du hast, mithelfen, dass sich in der beginnenden neuen Zeit eine stabile gesetzliche Krankenversicherung erhält.

Anstrengende, schwierige und schöne Tage

Für den kleinen Bereich der AOK Berlin hieß das, dass die Suche nach Altakten und Unterlagen über die Vorkriegsstrukturen, die Folgen des Mauerbaus, die dem FDGB zugewiesenen Einrichtungen und die dort geltenden Rechtsvorschriften beginnen musste.

Solche eher banalen ersten Überlegungen machten nicht nur das Episodenhafte auch wichtiger Zeitabschnitte deutlich, sondern waren für mich auch der Beginn der anstrengendsten, schwierigsten und gleichzeitig schönsten Jahre meines Berufslebens.

Ich konnte mit außergewöhnlich vielen hoch motivierten Akteuren des Gesundheitswesens aus Ost und West zusammenarbeiten. Hierfür werde ich ein Leben lang dankbar sein.

Deshalb steht der Einigungsvertrag in der Ursprungsfassung auch noch in meinem Bücherschrank.

Den Abend des 9. November 1989 aber verbrachte ich mit meiner Familie vor dem Fernseher. Wir waren begeistert und zu Tränen gerührt, vor allem wegen der Bilder von dem Übergang "Bornholmer Straße". Im ersten Haus hinter der Bornholmer Brücke, auf der Nordseite der Bornholmer Straße, war früher die elterliche Wohnung meiner Frau.

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ZUR PERSON

Herwig Schirmer

Herwig F. Schirmer ist 1938 in Tübingen geboren. Der verheiratete Volljurist ist Vater von drei Kindern und lebt heute in Berlin. Seine beruflichen Stationen führten Schirmer unter anderem als Regierungsdirektor in das Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung, als Vizepräsident ins Bundesversicherungsamt nach Berlin, als Senatsdirektor nach Bremen, als Staatssekretär nach Berlin und Brandenburg sowie als Vorstandsvorsitzenden zur AOK Berlin. Heute ist er in Aufsichtsräten verschiedener Krankenhausträger.

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