Familien in der GKV

Die Mär von der Beitragsfreiheit

Die Familienversicherung in der GKV wird hoch gelobt als "beitragsfreie Mitversicherung". Doch stimmt das wirklich? Ein neues Gutachten kommt zu einem anderen Schluss und entlarvt die Beitragsfreiheit als Worthülse. Tatsächlich sind Familien Nettozahler. Tut der Gesetzgeber nichts, wird ihre Belastung weiter steigen.

Florian StaeckVon Florian Staeck Veröffentlicht:
Da bleibt zu wenig übrig: Kinder werden bei der Beitragsbemessung in der GKV nicht berücksichtigt.

Da bleibt zu wenig übrig: Kinder werden bei der Beitragsbemessung in der GKV nicht berücksichtigt.

© Fotowerk / fotolia.com

BERLIN/GÜTERSLOH. Für die Bundesregierung ist die "beitragsfreie Mitversicherung" in der Gesetzlichen Krankenversicherung eine familienpolitische Leistung.

16 Milliarden Euro jährlich würden für die Mitversicherung von Kindern ausgegeben, 13 Milliarden Euro für nicht erwerbstätige Ehegatten, heißt es im Familienreport 2012.

Eine noch unveröffentlichte Studie der Bertelsmann-Stiftung belegt, dass davon keine Rede sein kann.

Dr. Frank Niehaus, Leiter des Wissenschaftlichen Instituts der Privaten Krankenversicherung, kommt in seiner Expertise "Familienlastenausgleich in der GKV? Die beitragsfreie Mitversicherung' auf dem Prüfstand" zu dem Ergebnis, dieses Instrument stelle "keinen Familienlastenausgleich dar".

Anders als oft behauptet, seien Familien keine "Transferempfänger", sondern "Nettozahler" in der GKV. Denn in der Beitragssystematik blieben die Unterhaltslasten von Eltern gegenüber ihren Kindern oder nicht erwerbstätigen Ehepartnern unberücksichtigt.

Eltern würden in der GKV nicht entlastet, sondern doppelt belastet. Familien finanzierten durch ihre Kassenbeiträge nicht nur die laufenden Kosten der GKV, sondern sicherten durch ihre Kinder auch das Fortbestehen dieser umlagefinanzierten Sozialversicherung.

Anders als im Einkommensteuerrecht wird in der GKV das Einkommen jedes Einzelnen unabhängig davon verbeitragt, ob er oder sie eine Familie zu ernähren hat oder nicht, schreibt Niehaus, der das Wissenschaftliche Institut der Privaten Krankenversicherung (WIP) leitet.

Semantisches Großreinemachen gefordert

Der Familienlastenausgleich blende die Unterhaltslasten der Eltern aus. Als Folge werden Familien in der GKV über ihre Leistungsfähigkeit hinaus belastet.

Für die Studie hat Niehaus Daten aus dem Risikostrukturausgleich sowie der Deutschen Rentenversicherung untersucht. Sie zeigen, dass die allermeisten Familien mit bis zu drei Kindern während der Erwerbsphase der Eltern im Schnitt weniger Gesundheitsleistungen aus der GKV erhalten, als sie an Beiträgen zahlen.

Statt "beitragsfrei mitversichert" zu sein, sind Familien tatsächlich "wichtige Leistungsträger und Nettozahler". Lediglich im Jahr der Geburt eines Kindes würden Leistungen in Anspruch genommen, die höher sind als die Beiträge.

Als Konsequenz der Studie fordert der Richter am Landessozialgericht Hessen, Dr. Jürgen Borchert, ein "semantisches Großreinemachen".

Die beitragsfreie Mitversicherung "gibt es nicht und hat es nie gegeben", sagte Borchert der "Ärzte Zeitung". Der Vorsitzende Richter des 6. Senats war unter anderem maßgeblich an dem Pflegeurteil des Bundesverfassungsgerichts vom 3. April 2001 beteiligt.

Darin stellten die Richter für die Pflegeversicherung fest: Bei einem "Leistungssystem, das ein altersspezifisches Risiko abdeckt und so finanziert wird, dass die jeweils erwerbstätige Generation die Kosten für vorangegangene Generationen mittragen muss, ist für das System nicht nur die Beitragszahlung, sondern auch die Kindererziehung konstitutiv".

Der deutsche Weg: Erst belasten, dann fördern

Der Gesetzgeber müsse die Grundsätze dieses Urteils "endlich auch auf die GKV anwenden", fordert Borchert. Karlsruhe hatte gefordert, die Konsequenzen des Richterspruchs auch für die anderen Sozialversicherungssysteme zu prüfen.

"Nichts ist seitdem passiert", klagt Borchert. Nur in der gesetzlichen Pflegeversicherung müssen Kinderlose seit 2005 einen Beitragszuschlag von 0,25 Prozentpunkten zahlen.

Als Folge des geltenden Beitragsmodells in der GKV muss ein Arbeitnehmer mit einem Bruttoeinkommen von beispielsweise 2500 Euro pro Monat 205 Euro Krankenversicherungsbeitrag zahlen - unabhängig davon, ob ein oder vier Köpfe von dem Einkommen abhängig sind.

Würden die am Existenzminimum ausgerichteten Bedarfe von Kindern von Steuern und Beiträgen freigestellt, "könnten vermutlich die allermeisten Familien von ihrem selbst erwirtschafteten Einkommen leben", schreibt Niehaus.

Der deutsche Sozialstaat wählt den anderen Weg: Erst werden Familien belastet, dann "gefördert". So erhielten beispielsweise im Jahr 2010 bundesweit rund 213.000 gering verdienende Familien mit Kindern den sogenannten Kinderzuschlag. Er soll den Eltern den Bezug von "Hartz IV" ersparen.

Handelt der Gesetzgeber nicht, werden Familien in der GKV immer stärker in die Rolle von Nettozahlern gedrängt. Zum einen, weil die Erwerbstätigkeit von Frauen zunimmt, sodass Familien immer höhere Krankenkassenbeiträge zahlen.

Zum anderen, weil der Anteil der Rentner, deren Versorgung überdurchschnittliche Kosten verursacht, weiter steigen wird.

Lesen Sie dazu auch den Kommentar: Etikettenschwindel

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