Bürgerversicherung

AWO will Gerechtigkeit für Alle

Ein neues Gutachten der Arbeiterwohlfahrt soll es belegen: Die Bürgerversicherung sei gerechter, nachhaltiger und auch verfassungskonform. Das sehen aber nicht alle so.

Von Sunna Gieseke Veröffentlicht:
Ob arm, ob reich. Nach dem Willen der AWO sollen alle Einkommen in die Bürgerversicherung einfließen.

Ob arm, ob reich. Nach dem Willen der AWO sollen alle Einkommen in die Bürgerversicherung einfließen.

© Erwin Wodicka / fotolia.com

BERLIN. Eine Bürgerversicherung wäre umsetzbar und sogar verfassungskonform. Zu diesem Fazit kommen die Autoren des aktuellen Gutachtens "Zur Umsetzbarkeit einer Bürgerversicherung bei Krankheit und Pflegebedürftigkeit", das am Donnerstag in Berlin vorgestellt wurde.

Die Arbeiterwohlfahrt (AWO) hatte das Gutachten in Auftrag gegeben. Die Ergebnisse belegten, dass eine Zusammenführung von gesetzlicher und privater Kranken- und Pflegeversicherung das Finanzierungsproblem nachhaltig lösen könne, im Einklang mit dem Grundgesetz stehe und eine gerechte Verteilung der Lasten bringe, sagte Brigitte Döcker, Bundesvorstandsmitglied der AWO. Zudem kommen die Autoren des Gutachtens zu dem Schluss, dass keine unnütze Bürokratie aufgebaut werde.

Die AWO plädiert dafür - ähnlich wie bei dem Modell der Grünen-Bürgersicherung - alle Bevölkerungsgruppen und Einkommensarten (zum Beispiel: Mieten, Kapitalerträge) einzubeziehen.

Zudem soll die Beitragsbemessungsgrenze von derzeit etwa 3937 Euro auf das Niveau der Rentenversicherung (zurzeit 5800 Euro im Monat) erhöht werden. Dadurch soll die Finanzierung der Bürgerversicherung auf eine breite Basis gestellt werden.

Wie hoch in diesem Fall der Beitragssatz sein könnte, konnte die AWO jedoch nicht beziffern. Auch wenn eine Bürgerversicherung die meisten Gruppen entlasten soll, etwa Geringverdiener oder privat versicherte Kleinselbstständige, andere werden dafür wohl stärker zur Kasse gebeten.

Die Antwort darauf, wer wie hoch be- oder entlastet wird, blieben AWO und Verfasser der Studie aber schuldig. Mit Blick auf den demografische Wandel und höhere Ausgaben räumte Döcker grundsätzlich höhere Belastungen ein: "Selbstverständlich muss man mehr bezahlen."

"Eine solche Bürgerversicherung würde sowohl die gesetzliche Kranken- als auch die soziale Pflegeversicherung nachhaltiger finanzieren", sagte der Mitautor der Studie, Professor Stefan Greß von der Hochschule in Fulda.

Das Ausmaß der finanziellen Effekte - und damit das Ausmaß einer entstehenden Beitragssatzsenkung - in der Krankenversicherung ist auch davon abhängig, wie genau ein einheitliches Vergütungssystem für Ärzte in einem integrierten Versicherungssystem aussehen würde.

"Einen Automatismus zwischen der Einführung einer Bürgerversicherung und massiven Einkommensverlusten für die Ärzteschaft gibt es jedenfalls nicht", so Greß.

Kritik nicht nur von der PKV

Kritiker bewerten die Umstellung der GKV auf eine Bürgerversicherung als verfassungswidrig: Es verstoße vor allem gegen das Recht der privaten Krankenversicherer auf Berufsfreiheit, so das Argument.

Studienautor Professor Karl-Jürgen Bieback von der Universität Hamburg kommt hingegen zu dem Schluss: "Bei den Unternehmen der PKV wird nur die Berufsfreiheit betroffen, in Zukunft weiter Vollkrankenversicherungsverträge abzuschließen."

Diese Eingriffe seien verhältnismäßig. Bisher habe das Bundesverfassungsgericht alle Erweiterungen der Versicherungspflicht in der Sozialversicherung für verfassungsgemäß gehalten und den privaten Versicherungsunternehmen zu Recht keinen Schutz gewährt.

Ein weiteres Problem bei der Umstellung in der Bürgerversicherung sind Altverträge in der PKV. "Zu brachten ist, dass die Altverträge und die daraus abgeleiteten Rechte beider Seiten eigentumsmäßig geschützt sind", betonte Bieback.

Sein Vorschlag: Sie sollten unangetastet bleiben. PKV-Versicherte sollten jedoch in die GKV unter Mitnahme der Altersrückstellung wechseln können. "Zwar werden vor allem die schlechten Risiken aus dem Altbestand der PKV in die GKV wandern", sagte Bieback.

Aber diese besondere Belastung der GKV lasse sich damit rechtfertigen, dass der GKV auch alle Selbstständigen als Neuversicherte zuwachsen. Erst kürzlich hatte das Bundesgesundheitsministerium die finanziellen Effekte des Grünen-Bürgerversicherungskonzeptes analysiert.

In einem Papier heißt es: Die Berücksichtigung aller Einkunftsarten (Einkommen aus Kapitalanlagen, Vermietung und Verpachtung, Selbstständigeneinkommen) führe mit einer Anhebung der Beitragsbemessungsgrenze zu Mehrbelastungen in Höhe von rund 3,5 Milliarden Euro.

Die müssten laut Regierungskreisen zu zwei Dritteln von Rentnern zu tragen sein. "Die Beitragsbelastung der betroffenen rund 4,5 Millionen Rentnern mit Vermögenseinkommen würde im Durchschnitt um rund 40 Euro pro Monat steigen", heißt es in dem Papier.

Zudem würden die PKV-Haushalte insgesamt durch die Einbeziehung in die Bürgerversicherung um rund 2,5 Milliarden Euro belastet, GKV-Hausehalte um rund 4,5 Milliarden Euro entlastet.

Davon resultierten jedoch rund 3,5 Milliarden Euro aus der Abschaffung der Zuzahlungen.Weitere Kritikpunkte: Die Kosten-Nutzenrelation einer Verbeitragung von Vermögeneinkommens sei vor dem Hintergrund des enormen bürokratischen Aufwands fragwürdig. Denn: Alle Einkommen müssten zunächst erfasst werden, heißt es in dem Papier.

Lesen Sie dazu auch den Kommentar: Und noch ein Gutachten

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