Bürgerversicherung

Nicht ohne Nebenwirkungen

Bisher ist die Schaffung einer integrierten Krankenversicherung nur ein Programmsatz. Die Umsetzung, zeigt eine Studie der Böckler-Stiftung, wäre komplex – Job-Verluste inklusive.

Florian StaeckVon Florian Staeck Veröffentlicht:

BERLIN. Die Bürgerversicherung ist ein programmatischer Dauerläufer. Schon vor mehr als zehn Jahren tobte zwischen Union und FDP einerseits, SPD und Grünen andererseits eine Debatte, die bis heute akademisch ist: Weder Konzepte der Bürgerversicherung, noch Modelle der Kopfprämie haben es seither bis an den Kabinettstisch geschafft.

Eine Studie der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung zeigt, warum das so ist: Parteien haben die Debatte über alternative Finanzierungsformen der GKV zumeist nur in Programmsätzen geführt. Ausformulierte "Fahrpläne" zur Bürgerversicherung sind rar. Hier setzt die Studie an, die von Experten des IGES-Instituts erarbeitet wurde.

Betrachtet man die Bürgerversicherung nicht vom politisch gewünschten Endzustand her, sondern vom Transformationsprozess, dann werden Risiken und Nebenwirkungen deutlich. Das gilt etwa für die Beschäftigungswirkungen einzelner Szenarien. Aus der Vielzahl von Transformationsszenarien für eine Bürgerversicherung hat IGES vier Modelle ausgewählt. Jedes von ihnen geht mit unterschiedlichen politischen Kosten einher. Ein Königsweg hin zu einem einheitlichen Krankenversicherungsmarkt ist nicht erkennbar.

Szenario  1: Schließung der PKV für Neukunden:In diesem Szenario würde es ab einem Stichtag keine PKV-Vollversicherung mehr in der PKV geben, bestehende PKV-Verträge würden weitergeführt. PKV-Versicherte haben in diesem Modell einmalig die Chance, in die GKV zu wechseln. Angenommen wird dabei aber, dass Beamte und Versorgungsempfänger keine individuelle Wahloption haben. Stattdessen würde der jeweilige Beihilfeträger (Bund, Länder, Sozialversicherungen) dies für die Gesamtheit der Beihilfeberechtigten entscheiden. Bei diesem Vorgang würden risikoadjustierte Altersrückstellungen an die GKV übertragen.

Expertenmeinung: Gravierender Eingriff in PKV, für dieses Szenario wären stabile politische Mehrheiten nötig. Nach Ansicht der Forscher würde die PKV in diesem Modell binnen zwei Jahren ein Drittel ihre Versicherten verlieren. Nach drei Jahren hätten rund 60 Prozent der PKV-Beschäftigten ihren Job verloren, darunter sämtliche Vertriebsmitarbeiter.

Ohne Kompensationen müssten Leistungserbringer wie niedergelassene Ärzte mit starken Honorarverlusten rechnen.

Szenario  2: Übergreifender Risikostrukturausgleich ohne Wechseloptionen für GKV- und PKV-Versicherte: Der duale Versicherungsmarkt bleibt bestehen, das PKV-Neukundengeschäft würde fortgeführt. Die Privatassekuranz leistet eine Ausgleichszahlung an die GKV im Ausmaß des finanziellen Vorteils, der aus der günstigeren Versicherungsstruktur resultiert. Die Datenlage zur Berechnung dieser Zahlung ist dünn. Geschätzt werden Beträge von 750 Millionen bis zu einer Milliarde Euro pro Jahr. Die Prämien für PKV-Versicherte würden sich als Folge um rund 50 bis 60 Euro pro Monat erhöhen. Die Neuzugänge bei abhängig Beschäftigten und Selbstständigen in die PKV würden sich halbieren. Beschäftigungsverluste wären vor allem im Vertrieb der PKV zu erwarten.

Expertenmeinung: Der Strukturausgleich in diesem Modell hätte kaum noch Züge einer Bürgerversicherung. Vorteil wäre die Revidierbarkeit dieses Szenarios.

Szenario  3: Übergreifender Risikostrukturausgleich mit Wechseloptionen: Auch in diesem Szenario existiert das PKV-Vollgeschäft weiter, Versicherte erhalten Wechselmöglichkeiten – von der GKV in die PKV und umgekehrt. Der nötige Leistungsausgleich ist komplex – im Ergebnis müssen PKV-Versicherte einen "Solidarbeitrag" zahlen, den sie auch bei einem Wechsel in die GKV nur teilweise reduzieren können. Für sie bleiben nach Modellrechnungen Mehrbelastungen von rund 130 Euro monatlich. Als Folge käme es mittelfristig in der PKV zu Versichertenverlusten von einem Drittel. Nach zehn Jahren wäre die PKV-Beschäftigtenzahl um 40 Prozent geschrumpft.

Expertenmeinung: Positiv wäre, dass Wahlmöglichkeiten der Versicherten erhöht und die solidarische Finanzierung ausgeweitet würde. Allerdings wäre das Modell sehr komplex, zentrale Elemente des PKV-Geschäftsmodells würden ausgehebelt. "Substanzielle Zweifel" gibt es daher an der politischen Umsetzbarkeit.

Szenario  4: Dualer Versicherungsmarkt mit erhöhter Versicherungspflichtgrenze: Die Systemgrenze PKV-GKV bleibt bestehen, die Versicherungspflichtgrenze würde auf das Niveau der Rentenversicherung (2014: 5920 Euro) erhöht. Allein knapp eine Million PKV versicherte Arbeitnehmer müssten in die GKV wechseln. Unterstellt wird bei diesem Modell kurzfristig ein Rückgang der PKV-Versicherten um zehn bis 15 Prozent, binnen zehn Jahren um 25 Prozent. Im gleichen Zeitraum würde die Zahl der PKV-Beschäftigten um ein Drittel sinken.

Expertenmeinung: In dem Szenario wird die solidarische Finanzierung ausgeweitet, die Wahloptionen durch die höhere Versichertenpflichtgrenze eingeschränkt. Ein Wechselzwang für PKV-Versicherte in die GKV wäre politisch kaum durchsetzbar.

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