BSG stärkt Versicherte

Jetzt müssen Kassen liefern – und klare Kante zeigen

Leistungen bezahlen, auf die Versicherte eigentlich keinen Anspruch hätten? In diese Situation können Krankenkassen kommen, wenn sie nicht rechtzeitig über einen Antrag entscheiden. Das Bundessozialgericht hält die Regelung hoch.

Martin WortmannVon Martin Wortmann Veröffentlicht:
Die Liposuktion ist bei Frauen weltweit einer der am zweithäufigsten nachgefragten ästhetisch-chirurgischen Eingriffe.

Die Liposuktion ist bei Frauen weltweit einer der am zweithäufigsten nachgefragten ästhetisch-chirurgischen Eingriffe.

© Uwe Anspach / dpa

Bundessozialgericht macht Krankenkassen Beine – so titelte die "Ärzte Zeitung" im März 2016. Eigentlich war es zunächst der Gesetzgeber, der Beine machte, als er im Februar 2013 das Gesetz zur Verbesserung der Rechte von Patientinnen und Patienten erließ.

Dabei wurde eine Klausel ins Sozialgesetzbuch eingefügt, wonach Krankenkassen "zügig, spätestens bis zum Ablauf von drei Wochen" über einen Leistungsantrag entscheiden müssen. Ist ein MDK-Gutachten erforderlich, muss die Kasse den Antragsteller darüber unterrichten, und die Frist verlängert sich auf fünf Wochen.

Kann die Kasse die Fristen nicht einhalten, muss sie den Versicherten über einen "hinreichenden Grund" informieren. Andernfalls "gilt die Leistung nach Ablauf der Frist als genehmigt".

Die Krankenkassen tun sich schwer damit. Sollen sie tatsächlich Leistungen bezahlen, auf die der Versicherte eigentlich keinen Anspruch gehabt hätte? Doch das Bundessozialgericht (BSG) in Kassel gab schon 2016 eine klare Antwort: Ja! Der Gesetzgeber habe eine zeitnahe Versorgung gewährleisten wollen.

Bei einer Überschreitung der Fristen gelte der Leistungsantrag als "fiktiv genehmigt". Voraussetzung sei lediglich, dass der Versicherte sie "für erforderlich halten durfte".

Provokation durch Verzögerung

Die Kassen hadern weiter, teils nicht ohne Grund. Denn sie müssen sich nicht nur mit gutgläubigen Versicherten auseinandersetzen. Es gibt bundesweit im Internet werbende Praxen, die sich nicht nur auf bestimmte Behandlungen wie etwa die Liposuktion spezialisiert haben, sondern auch darauf, durch Verzögerungen ein Fristversäumnis zu provozieren.

Nun sind spät eingereichte Unterlagen unstreitig ein "hinreichender Grund" für eine Fristverlängerung. Doch die Kasse muss dann eine konkrete neue Frist setzen. Und je länger und ausgebuffter das gerade auch von privaten Leistungserbringern betriebene Spiel läuft, desto wahrscheinlicher wird ein Fehler.

So suchen die Kassen weiter nach einem juristischen Ausweg. In den nun vom BSG entschiedenen Fällen (die "Ärzte Zeitung" berichtete, Az. B 1 KR 15/17 R und B 1 KR 24/17 R sowie B 3 KR 30/15 R) hatte die Krankenkasse solche "fiktiven" Bewilligungen einfach wieder zurückgenommen.

Laut Gesetz ist das möglich, wenn sich eine Bewilligung als rechtswidrig erweist. Doch der Leistungsanspruch – hier auf Abdominalplastik nach massiver Gewichtsabnahme – sei Kraft gesetzlicher Fiktion entstanden und daher nicht rechtswidrig, urteilte der 1. BSG-Senat.

Allen Berechtigten gerecht werden

Der Gesetzgeber wolle alle Berechtigten schützen, "Er will mittellose Versicherte nicht sachwidrig gegenüber den Versicherten benachteiligen, die sich gleich nach der Genehmigung die Leistung selbst beschaffen (können), und ihnen nicht das wieder nehmen lassen, was er mit einer rechtmäßig fingierten Genehmigung gewährt hat."

Gänzlich ausgeschlossen ist eine Rücknahme dennoch nicht. Auch eine fiktive Genehmigung kann im Einzelfall rechtswidrig sein. Das gilt insbesondere auch, wenn Antragsteller grundlegende Tatsachen gezielt verschleiern. Zudem erlaubt das Gesetz eine Rücknahme bei einer "Änderung der Verhältnisse".

In der Rechtsprechung wurden dabei auch neu bekanntgewordene Tatsachen anerkannt. Das könnte hier sein, wenn der Kasse eine Arzneimittelunverträglichkeit bekannt wird.

Kurz vor der Verhandlung des 1. Senats hatte der 3. BSG-Senat ein Urteil vom Mai veröffentlicht und dort in einer Randbemerkung erklärt, dass er eine Rücknahme nach den Maßgaben des GKV-Leistungskatalogs für zulässig hält. Hintergrund könnte auch die Befürchtung sein, Kassen könnten nun auch unzureichend geprüfte Anträge lieber ablehnen, als eine Fristüberschreitung in Kauf zu nehmen.

Auch "sportliche Fristen" ernst nehmen

Das wäre bedauerlich. Ebenso bedauerlich wäre es, wenn die Kassen vorrangig auf juristische Lösungen hoffen. Im Interesse der Versicherten müssen sie zunächst alles daran setzen, auch "sportliche" Fristen einzuhalten. Den Grundstein hierfür können die IT-Abteilungen legen – etwa mit automatisierten Fristverlängerungen, wenn Unterlagen nur zögerlich eingereicht werden.

Zudem müssen die Kassen in mehrfacher Hinsicht klare Kante zeigen. So dürfen sie Schönheits-Behandlungen nur in wirklichen Ausnahmefällen bewilligen, weil sie sonst unnötige Hoffnungen wecken und Anträge provozieren.

Private Leistungserbringer sind zur wirtschaftlichen Aufklärung gesetzlich Versicherter verpflichtet; da lohnt eine Nachfrage, wie diese erfolgt ist. Vertragsärzte müssen ohnehin mit den Kassen kooperieren. Ein Stück weit lässt sie das an dem Zeitdruck, der auf den Kassen lastet, teilhaben. Gehen Unterlagen nur zögerlich ein, müssen sie wohl mit einer Beschwerde der Kasse rechnen.

Nach der gut begründeten Überzeugung des 1. BSG-Senats ging es dem Gesetzgeber hier allein um diejenigen, für die Ärzte und Krankenkassen gleichermaßen arbeiten: die Patienten.

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