Klinische Tests

DDR war kein "Versuchslabor"

Bei den angeblich fahrlässigen Medikamententests von westlichen Pharmafirmen in der DDR hat es "keine systematischen Verstöße" gegeben. Zu diesem Ergebnis kommt ein Forscherteam, das klinische Studien aus der Zeit von 1961 bis 1990 untersucht hat.

Florian StaeckVon Florian Staeck Veröffentlicht:
Kliniken im gesamten Gebiet der früheren DDR waren an den Auftragsstudien beteiligt.

Kliniken im gesamten Gebiet der früheren DDR waren an den Auftragsstudien beteiligt.

© Jens Wolf / dpa

BERLIN. Bei den Medikamententests, im Auftrag westlicher Unternehmen in der DDR hat es sich um keinen "Schlussverkauf letzter menschlicher Ressourcen eines bankrotten realsozialistischen Regimes" gehandelt.

Zu diesem Ergebnis sind Wissenschaftler gekommen, die klinische Studien in der DDR zwischen 1961 und 1990 untersucht haben.

Die Ergebnisse des zweieinhalbjährigen Forschungsprojekts sind am Dienstag in Berlin vorgestellt worden. Hintergrund waren Medienberichte, wonach die DDR für westliche Pharmafirmen damals - so 2013 das Magazin "Der Spiegel" - eine "günstige Teststrecke" dargestellt habe.

Das Forschungsteam um Professor Volker Hess vom Institut für Geschichte und Ethik der Medizin an der Charité räumt dabei mit der Vorstellung auf, es habe in der Kooperation mit Kliniken in der DDR systematisch ethische und rechtliche Grenzverletzungen gegeben.

120 Kliniken waren beteiligt

Tatsächlich haben die Wissenschaftler Hinweise auf bis zu 900 klinische Studien im Auftrag von Westfirmen gefunden. Auftraggeber dafür seien neben westdeutschen auch schweizerische, französische, britische und US-amerikanische Unternehmen gewesen. Beteiligt waren im Osten 120 Unikliniken sowie Bezirkskrankenhäuser im gesamten DDR-Gebiet.

Dabei halten die Forscher fest, dass "systematische Verstöße gegen die historisch jeweils geltenden Regeln" für die klinischen Studien in der DDR nicht festgestellt werden konnten. Auch die Annahme, die Studien jenseits des Eisernen Vorhangs seien besonders billig zu haben gewesen, würden der "komplexen Sachlage nicht gerecht".

Ausschlaggebend für die Vergabe der Studien in die DDR sei der beträchtliche Zeit- und Effizienzgewinn gewesen, der durch zentralstaatliche Kontrollen gewährleistet wurde.

Dadurch wurden "Einzelinteressen von Prüfzentren und Prüfärzten gedeckelt und öffentliche Kritik ausgeschaltet". Finanziell hingegen galten Studien in der DDR - etwa im Vergleich zur CSSR oder Ungarn - "in der Branche als übermäßig teuer".

Das Regelwerk für Arzneimittelstudien in der DDR habe den "seit den 1970er Jahren zunehmend schärfer gefassten internationalen Standards" entsprochen und war der westdeutschen Gesetzgebung und Kontrolle "zunächst um Jahr voraus", hält der Wissenschaftliche Beirat unter Leitung von Professor Carola Sachse (Universität Wien) fest.

Bereits 1964 wurde mit dem Arzneimittelgesetz in der DDR die zentrale Erfassung, Zulassung und Aufsicht über klinische Studien etabliert (im Westen: 1978).

Allerdings vermuten die Wissenschaftler bei einzelnen Studien, dass sich die westlichen Auftraggeber das qualitative Gefälle in der Arzneimittelversorgung zu Nutze gemacht haben: Nur in der DDR ließen sich demnach noch Studiendesigns realisieren, die zum damaligen Zeitpunkt in Westdeutschland nicht mehr möglich gewesen wären. Um diese These zu untermauern, wären weitere Fallstudien nötig, heißt es im Bericht.

Nur Vermutungen über Aufklärung der Patienten

Als "unvollständig" bezeichnen die Wissenschaftler das Bild, das sie sich über die Aufklärung und Einwilligung von teilnehmenden Patienten an den Studien machen konnten.

In allen untersuchten Studienberichten hätten die Einverständniserklärungen der Patienten nur anonymisiert und listenförmig vorgelegen. Über die tatsächliche Aufklärungspraxis gebe es nur vereinzelte Patientenberichte.

Diese schwache Beleglage sei aber kein "Spezifikum des DDR-Gesundheitssystems, sondern Teil einer erst noch zu schreibenden Geschichte des ‚informed consent‘".

Insgesamt vermuten die Forscher, dass bei der Aufklärung der Patienten dem "historischen Verständnis des Arzt-Patientenverhältnisses entsprechend gehandelt wurde" - nicht anders als im Westen Deutschlands.

Den finanziellen Umfang der Geschäfte im Rahmen klinischer Studien in den 1980er Jahren wird vom Wissenschaftlichen Beirat mit 1,8 bis 2,5 Millionen Valutamark angegeben. Gemessen an der damaligen Staatsverschuldung der DDR von 27 Milliarden Valutamark waren die klinischen Studien schon vor diesem Hintergrund kein Instrument, um "billig" Devisen zu generieren.

Aus den Geschäften zwischen westlichen Pharmaunternehmen und "dem SED-Staat als einer kommunistischen Diktatur (könne) nicht ohne weiteres auf die moralische Qualität dieser Beziehungen geschlossen werden", heißt es im Bericht.

Die Forschergruppe rief dazu auf, die aus den 1980er Jahren stammenden Akten in den DDR-Prüfzentren weiter aufzubewahren. Sie sollten nicht nach Ablauf der üblichen 30-jährigen Aufbewahrungsfrist entsorgt werden. Diese würde die Chance eröffnen, die Patientenperspektive bei künftigen Forschungsarbeiten stärker zu berücksichtigen.

BPI: Historische AUfarbeitung erlaubt differenziertes Bild

Für den Verband forschender Arzneimittelhersteller (vfa) kommentierte Hauptgeschäftsführerin Birgit Fischer die Ergebnisse: Diese bestätigten, "was schon interne Untersuchungen von Unternehmen ergeben hatten. Es war wichtig, den Fragen zu Studien in der DDR ausführlich wissenschaftlich nachzugehen. Deshalb haben der vfa und seine Mitgliedsfirmen das Projekt auch von Beginn an unterstützt. Der vfa konnte beispielsweise helfen, die beauftragenden Unternehmen aus dem untersuchten Zeitraum zu finden; und die Unternehmen haben stets Einsicht in die Unterlagen ihrer Archive gewährt, wenn die Historiker darum gebeten haben", so Fischer.

Für den Bundesverband der Pharmazeutischen Industrie (BPI) bewertete der stellvertretende Hauptgeschäftsführer Dr. Norbert Gerbsch den am Dienstag vorgelegten Forschungsbericht: "Die intensive historische Aufarbeitung erlaubt nun ein differenziertes Bild auf die von westlichen Firmen beauftragten klinischen Studien in der DDR. Diese waren in den meisten Fällen Teil von größeren, multinational und multizentrisch durchgeführten Studien in West und Ost und liefen nach den jeweils geltenden Regeln ab."

Mehr zum Thema

Interview

Diakonie-Präsident Schuch: Ohne Pflege zu Hause kollabiert das System

Kommentare
Vorteile des Logins

Über unser kostenloses Login erhalten Ärzte und Ärztinnen sowie andere Mitarbeiter der Gesundheitsbranche Zugriff auf mehr Hintergründe, Interviews und Praxis-Tipps.

Haben Sie schon unsere Newsletter abonniert?

Von Diabetologie bis E-Health: Unsere praxisrelevanten Themen-Newsletter.

Das war der Tag: Der tägliche Nachrichtenüberblick mit den neuesten Infos aus Gesundheitspolitik, Medizin, Beruf und Praxis-/Klinikalltag.

Eil-Meldungen: Erhalten Sie die wichtigsten Nachrichten direkt zugestellt!

Newsletter bestellen »

Top-Meldungen
Lesetipps
Rechtzeitig eingefädelt: Die dreiseitigen Verhandlungen zwischen Kliniken, Vertragsärzten und Krankenkassen über ambulantisierbare Operationen sind fristgerecht vor April abgeschlossen worden.

© K-H Krauskopf, Wuppertal

Ambulantisierung

90 zusätzliche OPS-Codes für Hybrid-DRG vereinbart

Führen den BVKJ: Tilo Radau (l.), Hauptgeschäftsführer, und Präsident Michael Hubmann im Berliner Büro des Verbands.

© Marco Urban für die Ärzte Zeitung

Doppel-Interview

BVKJ-Spitze Hubmann und Radau: „Erst einmal die Kinder-AU abschaffen!“