Anhörung des Ethikrats

Wann ist Zwang eine gute Tat?

Zwangsbehandlung im Fokus: Bei einer Anhörung des Ethikrats wurde einmal mehr deutlich, dass Meinungen stark auseinandergehen.

Von Susanne Werner Veröffentlicht:

BERLIN. Bis zu zehn Prozent der Patienten in psychiatrischen Kliniken werden jedes Jahr zwangsbehandelt, schätzt Dr. Martin Zinkler. Der Chefarzt der Landkreis-Kliniken in Heidenheim war einer der Experten, die der Deutsche Ethikrat am Donnerstagvormittag zu der ersten Anhörung nach Berlin geladen hatte. Das Gremium arbeitet aktuell an einer Stellungnahme, ob und wann eine aufgezwungene Behandlung ethisch und rechtlich als problematisch einzustufen ist (die "Ärzte Zeitung" berichtete). Nicht nur Psychiatrie, auch Pflege sowie Kinder- und Jugendhilfe sollen dabei in den Blick genommen werden.

Experte Zinkler plädierte für eine radikale Zurückhaltung. Sein bundesweites Vorbild steht in Herne: Das dortige St. Marienhospital verzeichne weniger als ein Prozent Zwangsbehandlungen pro Jahr. Dies sei vor allem darauf zurückzuführen, dass das Ziel, Zwangsbehandlungen zu vermeiden, oberste Priorität habe. Ohne einen "Shift ins Soziale", so der Facharzt für Psychiatrie, sei dem Problem nicht beizukommen. "40 Jahre biologische und psychologische Forschungen haben nichts gebracht. Letztlich ist es die soziale Ungleichheit, die die psychische Erkrankung verursacht."

Professor Andreas Heinz, Klinikdirektor an der Charité in Berlin, spricht sich hingegen für eine Zwangsbehandlung aus, wenn der Patient aufgrund einer "lebensrelevanten Funktionsstörung" gefährdet ist. Wie beispielsweise jene Frau, die aufgrund einer Herpes-Enzephalitis in ein Delirium geriet und jede Behandlung ablehnte. "Im Ernstfall muss sich der Arzt fragen, was ohne die notwendige Behandlung passiert", sagte Heinz. Manche Patienten seien im Nachhinein dankbar, dass sie gegen ihre Einwilligung behandelt worden sind. Um die Zahl der Zwangsbehandlungen zu senken, setzt Heinz auf Stationen "mit offenen Türen" und auf den verstärkten Einsatz von Psychiatrie-Erfahrenen, die zu Genesungsbegleitern ausgebildet worden sind.

Professor Peter Dabrock, Vorsitzender des Ethikrates, hatte zuvor die Brisanz des Themas deutlich gemacht: "Wir bewegen uns auf dünnem Eis. Ärzte stehen unter einer massiven Rechtfertigungspflicht." Im Mai wird es eine weitere Anhörung geben.

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