Ökonomisierung in der Medizin

Internisten setzen auf Eid des Hippokrates 2.0

Beim Internistenkongress in Mannheim soll ein Klinik-Codex vorgestellt werden. Er ist mehr als ein Zeichen an politische Entscheider. Der Codex muss als Aufruf, ja als Mahnung an die Ärztinnen und Ärzte selbst verstanden werden.

Dr. Thomas MeißnerVon Dr. Thomas Meißner Veröffentlicht:

Vor zwei Jahren startete die Deutsche Gesellschaft für Innere Medizin (DGIM) bei ihrer Jahrestagung die Initiative "Klug entscheiden" und beeinflusste damit die innerärztliche Diskussion über einen rationalen Einsatz von Ressourcen in der Medizin nachhaltig. Auch 2017 schlagen die Internisten wieder Pflöcke in den Boden und ziehen eine Grenze, die signalisiert: Bis hierhin und nicht weiter!

"Medizin vor Ökonomie!", lautet die Kernforderung der DGIM. Mit ihrem Klinik-Codex, der vom DGIM-Vorstand auf Initiative der Vorsitzenden, Professor Petra-Maria Schumm-Draeger aus München, formuliert worden ist, setzen die deutschen Internisten ein Zeichen. "Eine betriebswirtschaftliche Komponente darf nie das ärztliche Handeln bestimmen, weder eine Indikation noch irgendeine Maßnahme der Diagnostik und Therapie", so die Kongresspräsidentin. Es obliege stets primär der am kranken Menschen tätigen Ärztin oder dem Arzt, was mit dem Patienten geschehen soll und was nicht. "Das wird im Codex im Einzelnen ausgeführt." Das Dokument soll besonders leitenden Ärzten gegenüber ihren Geschäftsführungen Rückhalt geben.

Mit 25.000 Mitgliedern ist die DGIM eine der größten medizinischen Fachgesellschaften Europas. Aus dem Vorstand wird signalisiert, dass man weitere Meinungsbildner von Fachgesellschaften außerhalb der Inneren Medizin mit ins Boot holen möchte. Ärztliche Ethik soll gegen die Protagonisten eines Gesundheitssystems in Position gebracht werden, in dem es inzwischen hauptsächlich darum zu gehen scheint, Erlöse zu erwirtschaften. Hört man sich auf anderen Fachkongressen um, wird klar, dass die Chancen für dieses Anliegen der Internisten gut stehen.

"Überdosis Ökonomie"

So erklärte Ende vergangenen Jahres Dr. Axel Schroeder, Vorsitzender des Berufsverbandes Deutscher Urologen: "Gelten muss wieder der Grundsatz: Ethik vor Ökonomie. Ärztlich-medizinische Entscheidungen müssen Vorrang haben." Und der damalige DGU (Deutsche Gesellschaft für Urologie)-Präsident Professor Kurt Miller von der Berliner Charité stellte fest, das deutsche Gesundheitssystem habe eine "Überdosis Ökonomie" abbekommen und präsentierte dem überraschten Publikum den Ausschnitt eines Briefes, in dem ein "ihm bekannter" Klinikleiter aufgefordert wurde, ökonomische Jahresziele "mit allen Mitteln" zu erreichen.

Der Klinik-Codex der Internisten ist jedoch mehr als ein Zeichen an politische Entscheider, mehr als eine Forderung, typisch für ein Bundestagswahljahr. Der Codex muss als Aufruf, ja als Mahnung an die Ärztinnen und Ärzte selbst verstanden werden. "Das ökonomische Denken ist so vorherrschend, dass sich dadurch auch die inneren Einstellungen der Heilberufe sukzessive verändern", warnt der Freiburger Medizinethiker Professor Giovanni Maio in seinem Buch "Geschäftsmodell Gesundheit". Wenn junge Ärztinnen und Ärzte vom ersten Arbeitstag daran gewöhnt werden, stets den optimalen Case-Mix für die Abrechnung im Hinterkopf zu behalten, besteht die Gefahr, dass dies die Grundhaltung gegenüber Patienten verändert.

Schnittstelle zwischen Medizin und Ökonomie

Womöglich kann der Codex dazu beitragen, das zu verhindern. Ausdrücklich beruft sich Schumm-Draeger in ihrem Grußwort an die DGIM-Kongressteilnehmer auf Hippokrates, wenn sie für eine "werte-orientierte, individualisierte und fürsorgliche Medizin" wirbt. Es geht also um eine Medizin, die sich auf traditionelle ethische Werte beruft, die aber sicher nicht ökonomische Notwendigkeiten ausblenden will. Genau hier setzt auch die "Klug entscheiden"-Kampagne der Internisten an: Seit zwei Jahren geben die Schwerpunktgesellschaften Positiv- und Negativempfehlungen ab, um Tendenzen der Über- und Unterversorgung entgegenzuwirken. Dies war zu keinem Zeitpunkt als Instrument der Priorisierung gemeint, im Sinne von "Qualität muss nicht teuer sein" aber schon.

Dennoch könnten an dieser Schnittstelle zwischen Medizin und Ökonomie unterschiedliche Auffassungen in der Ärzteschaft zutage treten, und es dürfte interessant sein, die Diskussionen beim DGIM-Kongress in Mannheim genau zu verfolgen.

So bekannte kürzlich einer der Tagungspräsidenten des Kongresses der Deutschen Gesellschaft für Pneumologie und Beatmungsmedizin (DGP), Professor Martin Hetzel vom Krankenhaus vom Roten Kreuz in Stuttgart: "Ich sehe das Krankenhaus als einen Dienstleistungsbetrieb, der ökonomischen Gesetzmäßigkeiten unterworfen ist und mit den Ressourcen umgehen muss, die endlich sind." Leitende Ärzte, so Hetzel, müssten ihre Einrichtung sinnvoll strategisch ausrichten, Medizin und Ökonomie "auf eine Linie" bringen und Vorgaben der Gesundheitspolitik beachten, etwa wenn es um die Messung der Ergebnisqualität stationärer Einrichtungen gehe. Das hört sich anders an, als wenn Professor Petra-Maria Schumm-Draeger das Bezahlsystem deutscher Krankenhäuser per se in Frage stellt: "Konstrukte wie das Fallpauschalensystem treiben uns in die falsche Richtung!"

Ökonomische und medizinische Denkweisen sind schwer vereinbar, weil sie unterschiedliche Ziele anpeilen. Es wird Zeit, dass in der Ärzteschaft selbst ein Konsens darüber hergestellt wird, wie man dennoch beides zusammenbringen kann. Ein Klinik-Codex könnte dafür eine gute Grundlage sein.

Videointerview

Im Interview erläutert DGIM-Präsidentin Petra-Maria Schumm-Draeger, warum der Klinik-Codex so wichtig ist.

Das Video ist zu finden bei SpringerMedizin.de.

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