Web 2.0

Vielen Schwerkranken hilft Bloggen bis zum letzten Atemzug

In Ruhe und Zurückgezogenheit sterben war gestern. Heute schreiben sich viele das Leid in aller Öffentlichkeit von der Seele. Sie kommen dadurch mit der Krankheit oft besser zurecht.

Von Thomas Müller Veröffentlicht:
Bloggen ist populär geworden, auch das Bloggen über Krankheit und Tod.

Bloggen ist populär geworden, auch das Bloggen über Krankheit und Tod.

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"Hallo. Ich heiße Dmitrij Panov und ich werde bald sterben. Klingt komisch, ist aber so." Mit diesen Worten beginnt der 25-jährige Marburger seinen Blog "Sterben mit Swag". Die letzten neun Monate seines Lebens breitet er öffentlich seine Gedanken und Gefühle aus. "Irgendwas muss man doch hinterlassen, wofür man nicht in die Kanalisation steigen muss, um's zu finden", schreibt er.

Bloggen ist populär geworden, auch das Bloggen über Krankheit und Tod. Social Media sind längst in die Krankenzimmer und Hospize vorgedrungen. Das Web 2.0 als interaktive Bühne vor anonymem Publikum, das die Selbstentblößung erleichtert, das mal applaudiert, mal aufmuntert, mal kritisiert, mal pöbelt. In einer Welt, in der viele bereit sind, alle Details ihres Lebens auf Facebook vorzuführen, mag die Hemmschwelle für ein öffentliches Krankheitstagebuch gering sein, der Krebsblog ist dann häufig nur die Fortführung der "Timeline" im öffentlichen Raum. So war es etwa bei der 2016 gestorbenen Moderatorin Miriam Pielhau: Sie machte einfach ihre Facebookseite öffentlich. Ihr letzter Eintrag wurde über 6000-mal "geliked".

Doch einen öffentlichen Krankheitsblog starten auch Patienten, die sich für Social Media zuvor nur wenig interessiert haben. Was also bewegt Menschen, plötzlich vor großem Publikum über ihre Körperfunktionen und -dysfunktionen zu plaudern?

Ähnlich wie expressives Schreiben

Neben dem Verlangen, ein Vermächtnis zu hinterlassen, kann das Bloggen ein Weg sein, mit der Krankheit besser zurechtzukommen. Kommunikationswissenschaftler um Stephen Rains und David Keating aus Tucson, USA, sehen eine gewisse Ähnlichkeit dieses "Cybercopings" mit expressivem Schreiben, das bei der Bewältigung von Lebenskrisen helfen soll. In einer Metaanalyse von 150 Studien aus dem Jahr 2006 zeigten sich positive Auswirkungen auf Psyche und Gesundheit bei Personen, die sich das erlebte Leid von der Seele schrieben (Psychological Bulletin 2006; 132, 823). Das expressive Schreiben löst nach dem Inhibitionsmodell unterdrückte Gedanken und Emotionen, die sich negativ auf die Gesundheit auswirken, und fördert die kognitive Verarbeitung. Die Selbstregulationstherorie geht hingegen davon aus, dass starke emotionale Ausdrücke beim Schreiben den Betroffenen ein Kontrollgefühl geben, das den Umgang mit negativen Gefühlen erleichtert. Das müsste demnach auch fürs Bloggen gelten. Allerdings verarbeiten Blogger ihre Erlebnisse unter den Augen der Öffentlichkeit, und das ist dann doch ein großer Unterschied, geben Rains und Keating zu bedenken (Commun Research 2015, 42: 107). Die Kommunikationswissenschaftlerin Deborah Chung und die Pathologin Sujin Kim aus Lexington, USA, sehen durch das Bloggen vor allem zwei Bedürfnisse von schwer Erkrankten befriedigt – das nach emotionaler Unterstützung und das nach Information (JASIST 2008; 59: 297). "Die Patienten werden häufig mit komplexen Informationen konfrontiert und müssen sowohl mit der physischen als auch psychischen Belastung durch ihre Krankheit zurechtkommen."

Wie sehr das Emotionsmanagement dabei im Vordergrund steht, konnten die beiden Forscherinnen in einer Umfrage bei 113 Teilnehmern von Krebsblogs zeigen. Sie konfrontierten die Blogger mit einer Reihe von Statements wie: "Blogs helfen mir, meinen Frust im Umgang mit Krebs auszudrücken" oder "Ich habe über Krebsblogs wichtige Informationen erhalten". Am stärksten war die Zustimmung bei Statements zum emotionalen Management, der Informationsaustausch landete auf dem zweiten Platz. Deutlich weniger hilfreich scheinen Blogs zu sein, um Probleme zu lösen, etwa die aktuelle Therapie zu verändern, bessere Entscheidungen im Umgang mit der Krankheit zu treffen oder sich für Arztgespräche zu wappnen.

Der Informationsaustausch ist jedoch ein kritischer Punkt. In einer Umfrage bei Ärzten gab immerhin ein Viertel an, im Internet erworbenes Wissen der Patienten sei in der Regel völlig falsch, nur ein Bruchteil (acht Prozent) beurteilte das Internetwissen als völlig korrekt (Journal of Medical Internet Research 2003; 5: e17). Pielhau etwa schwor auf eine kohlenhydratarme vegane Ernährung. "Krebszellen brauchen nur Zucker, mit dem anderen Zeug können sie nichts anfangen", so ihre Begründung. Da solche Promitipps andere Kranke beeinflussen, schlagen Chung und Kim vor, die Patienten zu trainieren, Fakten von Fiktion zu unterscheiden und auf vertrauenswürdige Webseiten zu gehen.

Mehr als ein Informationskanal

Manchmal folgt ein Blog aber vor allem einem praktischen Bedürfnis: den aktuellen Zustand eines erkrankten Angehörigen zu posten, um durch die vielen Anfragen per Telefon und Mail nicht völlig gelähmt zu werden. Sehr eindrucksvoll beschreibt der Endokrinologe Dr. Leon Bach aus Melbourne in Australien, wie er zum Blogger wurde (Journal of Clinical Oncology 2008; 26: 4504). Nachdem seine Frau Ilana an Brustkrebs erkrankt war, wollten ihre Freunde ständig wissen, wie es ihr ging. Die Bachs stellten schließlich fest, dass sie dafür weder die Kraft noch die nötig Zeit hatten. Als sich Ilanas Zustand eine Woche vor ihrem Tod zuspitzte, begann der Arzt einen Blog und informierte damit alle Freunde und Bekannten über ein tägliches Update. "Ich dachte zunächst nur an einen Informationskanal, aber daraus wurde etwas weitaus Mächtigeres. Ich war in der Lage, das Geschehen der letzten 24 Stunden zu reflektieren, und konnte mich viel ehrlicher und intimer ausdrücken als in den unzähligen emotional erschöpfenden Telefongesprächen."

Bach bedauert, dass er den Blog nicht schon früher begonnen hatte. Die "Macht des Bloggens", so schreibt er, wird noch immer unterschätzt, gerade im Endstadium einer Erkrankung. Er rät seinen Kollegen, mit Patienten am Lebensende über dieses Werkzeug zu sprechen.

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