Vision: Sorgenfreies Alter, Sterben in Würde Realität: Jahrelanges Siechtum in Einsamkeit

Die Hamburger Rechtsmedizin hat mit ihrem Gutachten zum Stand in der Pflege die Öffentlichkeit wach gerüttelt. Unser Bild vom gut versorgten alten Menschen bleibt in vielen Fällen Wunschdenken.

Dirk SchnackVon Dirk Schnack Veröffentlicht:

Die Frau hat erkennbar Freude am Leben: Im Gras sitzend macht sie leichte Gymnastik, die auf einen fitten Allgemeinzustand schließen lässt. Dabei strahlt sie über das ganze Gesicht, selbstverständlich mit Originalzähnen. Die Frau auf dem Titelbild einer gerontologischen Fachzeitschrift ist erkennbar im Rentenalter.

So wünschen sich viele Menschen ihr Leben im Alter und die Medien leisten ihren Beitrag, um dieses Bild zu fördern. Aber Schlagworte vom "Sterben in Würde" nach einem "sorgenfreien Alter" bleiben nach den Erfahrungen von Professor Klaus Püschel vom Universitätskrankenhaus Hamburg-Eppendorf (UKE) für viele Menschen in ihrer letzten Lebensphase reines Wunschdenken. Statt einen Sportdress zu tragen sind viele Alte auf die Windel angewiesen.

Die letzte Lebensphase ist bei vielen Menschen von Siechtum und Multimorbidität gekennzeichnet, wie Püschel in einer Untersuchung herausgefunden hat. Sie sind auf Pflege angewiesen, leben oft mit Kunstgelenken, mit Magensonde, mit leicht brechenden Knochen. Hinzu kommen Einsamkeit, Depressivität und ein erhöhtes Suizidrisiko.

Laut Untersuchung hat sich zwar der Anteil der Menschen mit einem Dekubitus im Vergleich zu einer früheren Untersuchung leicht verringert (3,3 Prozent wiesen einen Dekubitus dritten oder vierten Grades auf), doch Anlass zur Entwarnung besteht nach Ansicht Püschels nicht. Auch Zahnstatus und Ernährung zeigen Verbesserungspotenzial. So war nur die Hälfte der Untersuchten im Alter normalgewichtig. 15 Prozent waren unter-, 35 Prozent übergewichtig. Püschel stellte außerdem fest: "Suizidfälle nehmen im Alter relativ gesehen erheblich zu. Menschen mit höherem Lebensalter haben ein gesteigertes Risiko, einsam zu sterben."

Obwohl Püschel jede Schuldzuweisung vermied und Ärzten und Pflegern sogar gute Arbeit bescheinigte, sorgten seine Ergebnisse in Hamburg für hektische Betriebsamkeit. Ärztekammer, Krankenhausgesellschaft, Hausärzteverband und Pflegegesellschaft beschlossen gemeinsam mit dem UKE einen "sektorübergreifenden Maßnahmenpool", um Dekubitalgeschwüre künftig besser verhindern zu können.

Zu diesen Maßnahmen zählen etwa der verstärkte Einsatz von Wundmanagern und die Dokumentation und Auswertung der Daten. Wenn Geschwüre gehäuft auftreten, so die Hoffnung der Partner, greift eine datengestützte Qualitätssicherung und mündet in einen "kontinuierlichen Verbesserungsprozess". Jens Stappenbeck von der Pflegegesellschaft glaubt, damit "die Lebensqualität alter Menschen nachhaltig verbessern" zu können.

Nach Einschätzung der Hamburger Gesundheitsbehörde bedürfen insbesondere die Studienergebnisse zu den Druckgeschwüren einer "eingehenden Betrachtung". Dabei gibt es seit einigen Jahren zumindest in den Krankenhäusern eine positive Entwicklung bei der Verhinderung und Behandlung von Dekubiti.

Nach Zahlen der Hamburgischen Krankenhausgesellschaft ist der Anteil der mit Dekubitus aufgenommenen Patienten seit 2005 von über vier auf drei Prozent in 2008 und der Anteil der in den Kliniken entstandenen Dekubiti im gleichen Zeitraum von einem auf unter 0,5 Prozent gesunken. Alle Krankenhäuser in der Hansestadt, die somatisch kranke Erwachsene behandeln, beschäftigen bereits speziell geschulte Wundmanager. Auch die UKE-Rechtsmedizin stellte klar, dass die Situation in anderen Großstädten bedenklicher ist. Dennoch wollen Krankenhäuser zusammen mit Ärzten und Pflegegesellschaft an Verbesserungen mitwirken.

Keine Lösungsvorschläge gibt es bislang für andere von Püschel aufgezeigte Probleme. Zum Beispiel Vereinsamung: Rund zwei Prozent der Gestorbenen werden erst nach einer längeren Leichenliegezeit gefunden, Zweidrittel von ihnen sind Männer. Ein Viertel von ihnen war alkoholabhängig, bei jedem Dritten deutete der Zustand auf Verwahrlosung hin.

Studie der UKE-Rechtsmedizin

Überprüft wurden 8518 Verstorbene, die im Rahmen der zweiten Leichenschau vor der Einäscherung im Krematorium untersucht wurden (wir berichteten). Das Durchschnittsalter betrug 81 Jahre (Frauen 84, Männer 78 Jahre), 57 Prozent waren Frauen. 42 Prozent von ihnen war im Krankenhaus gestorben, 31 Prozent im Pflegeheim, 23 Prozent privat und vier Prozent in einem Hospiz. Zweidrittel der Verstorbenen hatten ihren letzten Wohnsitz in Hamburg, 31 Prozent in Schleswig-Holstein, vier Prozent kamen aus Niedersachsen. (di)

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