Begleiter des Patienten - Partner des Hausarztes

Hessen ist das erste Bundesland gewesen, das mit allen gesetzlichen Kassen Verträge für die Spezialisierte Ambulante Palliativversorgung (SAPV) abgeschlossen hat. Mehrere Teams sind bereits im Einsatz, doch zu einer flächendeckenden Versorgung reicht es bislang noch nicht.

Von Sabine Schiner Veröffentlicht:
Dr. Thomas Sitte vom Palliativ-Netz in Fulda auf dem Weg zum nächsten Patienten. © ine

Dr. Thomas Sitte vom Palliativ-Netz in Fulda auf dem Weg zum nächsten Patienten. © ine

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FULDA. Wie überaus wichtig es für viele Schwerstkranke ist, bis zu ihrem Tod in den eigenen vier Wänden versorgt werden zu können, erlebt Dr. Thomas Sitte vom Palliativ-Netz Osthessen in Fulda jeden Tag.

Gerade eben war er im Hospiz St. Elisabeth, um nach einem Patienten zu sehen. Nun sitzt der 51-Jährige wieder an seinem Schreibtisch. Während er die Patientendaten in seinen PC eingibt, versucht er den Hausarzt des Patienten ans Telefon zu bekommen. "Ich muss alle Beteiligten auf einen Wissensstand bringen."

Die Fragen, mit denen er sich täglich beschäftigt, drehen sich um das Lebensende: Ist die Versorgung mit Schmerzmitteln ausreichend? Sollte man Medikamente lieber absetzen, weil sie jetzt mehr schaden als nutzen? Soll der Patient künstlich beatmet werden? Soll eine PEG-Sonde gelegt werden? Was will der Patient? Und ganz wichtig: Wie stehen die Angehörigen dazu? Es sind Fragen, auf die auch gestandene Allgemeinmediziner oft nur schwer eine Antwort finden.

Die spezialisierte ambulante Palliativversorgung richtet sich an Patienten, deren Krankheit eine Intensität und Komplexität erreicht hat, die ein spezialisiertes Palliativteam erforderlich macht, heißt es beim Sozialministerium. Die Palliative-Care-Teams zeichnen sich durch Multiprofessionalität, eine enge Kooperation mit Primärversorgern und eine 24-stündige Erreichbarkeit an sieben Tagen in der Woche aus. Für einen Arzt wie Sitte heißt das: Er kennt eine Menge Leute, ist immer auf dem Sprung und nie ohne Laptop und Internet-Handy unterwegs.

"Für diese Arbeit darf man nicht zu jung sein"

Zum Palliativ-Netz in Fulda gehören fünf Ärzte und sechs Palliativ-Care-Pflegekräfte. Das Team versorgt derzeit etwa 100 Palliativpatienten, darunter sind 30 SAPV-Patienten. Christiane Jaup ist Pflegedienstleiterin. Sie macht die Dienstpläne. Von den sechs Pflegekräften arbeiten zwei Vollzeit, die anderen haben Teilzeitstellen - "und bauen viele Überstunden auf", sagt sie. Da viele Patienten im Schnitt mehr als 30 Kilometer entfernt von Fulda wohnen, sind Anfahrtszeiten von einer Stunde keine Ausnahme. Eine Halbtagskraft kommt da schnell an ihre Arbeitszeit-Grenzen, rechnet man anderthalb Stunden für die Betreuung und Beratung von Patienten und deren Angehörigen. Christiane Jaup ist Mitte 40 und gelernte Krankenschwester. "Man darf nicht zu jung sein für diesen Job", sagt sie. "Hier gibt es viel Sterben, Tod und Trauer."

Sitte ist derweil unterwegs zur nächsten Patientin. Eine Dreiviertelstunde dauert die Fahrt aufs Land. Kerstin S. ist seit fünf Jahren schwerkrank. Seit 2006 wird sie von Sitte betreut. "Damals wollte ich sterben", sagt sie und schaut durchs Fenster in den Garten. Sie ist froh, dass es das Palliativ-Netz gibt. Ins Krankenhaus will sie nicht. Ihre Eltern kümmern sich um sie. Momentan, sagt sie, gehe es ihr gut. Werden die Schmerzen zu stark, hat sie für den Notfall ihr Nasenspray mit dem Wirkstoff Fentanyl in Reichweite.

Was Sittes Arbeit unter anderem so wertvoll macht, ist die umfassende Betreuung. So hat er auch dafür gesorgt, dass Kerstin S. regelmäßig von einer Psychologin und einer Physiotherapeutin zuhause besucht wird. "Wenn es ihr hilft, muss sie das auch bekommen", sagt er.

Die Erfahrung und das Wissen des Palliativnetzes nutzen auch der Hausarzt Dr. Jörg Simon und seine Kollegen der Gemeinschaftspraxis. Ein Palliativmediziner wie Sitte sei ihm an Erfahrungen bei der Betreuung von todkranken Patienten weit voraus - vor allem, wenn es um die Betreuung zu Hause gehe. "Ich kann keine Rufbereitschaft anbieten", sagt Simon. In seiner Praxis erhalten pro Quartal im Schnitt drei bis fünf Patienten eine Spezialisierte Ambulante Palliativversorgung. Simon gibt zu, dass Sitte zu Anfang einige Überzeugungsarbeit leisten musste. "Sterbebegleitung ist schließlich eine hoheitliche Aufgabe von uns Hausärzten", sagt er. Einen Teil davon an Palliativmediziner abzugeben, sei für ihn ein großer Einschnitt gewesen. Die Zufriedenheit von Patienten und Angehörigen habe ihn letztlich überzeugt: "Wir sollten eigene Eitelkeiten hinten an stellen und umdenken."

Patienten und Angehörige wissen die Arbeit des Palliativ-Teams längst zu schätzen. Manfred Babilon zum Beispiel. Seine Frau hatte tagelang unter großen Schmerzen gelitten - sie hatte einen Tumor. Ihr Arzt konnte ihr keinen kurzfristigen OP-Termin anbieten und auch die Onkologen im MVZ konnten ihr nicht helfen. "Ein Anruf, Herr Sittte kam, vier Schübe Fentanyl - und die Schmerzen waren weg", erzählt Babilon. Sitte habe zudem einen Kollegen in einer Wiesbadener Klinik angerufen und einen Termin zur Tumorkonferenz für die nächste Woche ausgemacht.

Zweifel an seiner Arbeit - die hat Thomas Sitte nicht

Sitte sitzt längst wieder in seinem Auto und greift nach dem Laptop. Bevor er losfährt, dokumentiert er seinen letzten Patientenbesuch und klagt über die Bürokratie. Viele Vorschriften erschwerten die medizinische Versorgung, viele Formulare seien unsinnig. Er rege sich jedes Mal darüber auf, wenn ein Schwerstkranker mit zittrigen Händen versucht, eine Unterschrift auf den Antrag auf SAPV zu setzen. "Die Kassen fordern drei Unterschriften von ihm - das ist doch unnötig", sagt er. Anstrengend sei auch der Kampf um mehr finanzielle Absicherung durch die Krankenkassen. Am Sinn seiner Arbeit zweifelt er hingegen nicht. "Wir Menschen müssen alle sterben", sagt Sitte. "Wenn der Weg dorthin gut war, dann macht mich das zufrieden."

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