Gesundheits-IT in Deutschland

Hui oder pfui?

Die Gesundheits-IT boomt. Die Nachfrage nach mobilen Anwendungen, Expertensystemen und telemedizinischen Diensten steigt. Umso bedauerlicher, dass das deutsche Gesundheitswesen noch immer nicht aus dem Quark kommt.

Philipp Grätzel von GrätzVon Philipp Grätzel von Grätz Veröffentlicht:
Der IT-Einsatz im Gesundheitswesen gewinnt zunehmend an Bedeutung

Der IT-Einsatz im Gesundheitswesen gewinnt zunehmend an Bedeutung

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BERLIN. Die schlechte Nachricht zuerst: Die IT-Infrastruktur für das deutsche Gesundheitswesen verzögert sich weiter. Nachdem die Online-Tests für das Update der Stammdaten auf der elektronischen Gesundheitskarte und für die elektronische Signatur der Ärzte eigentlich im Herbst 2015 hätten starten sollen, war der Termin zwischenzeitig in den Sommer 2016 gerückt.

Und obwohl noch Ende 2015 versichert wurde, dass dieser Termin nun wirklich gar kein Problem sei, deutet sich jetzt nach allem, was zu hören ist, an, dass es in den beiden großen Testregionen wohl eher Ende 2016 oder sogar erst Anfang 2017 losgeht.

Rings um Deutschland herum verzögert sich dagegen wenig. Die Gesundheits-IT-Messe conhIT, die am Dienstag in Berlin startet und die in diesem Jahr so international ist wie nie zuvor, ist eine gute Gelegenheit, sich (auch) darüber zu informieren.

Bei unseren unmittelbaren Nachbarn sind es längst nicht mehr nur die Dänen, bei denen eine elektronische Medikation und eine für alle medizinischen Einrichtungen zugängliche Patientenakte seit Jahren Standard sind.

Den Dänen wird ja vorgehalten, den Datenschutz nicht ernst genug zu nehmen. Sie zählten deswegen in den hiesigen Debatten immer nicht so richtig.

Müssen sie auch nicht, denn mittlerweile gibt es genug andere Beispiele. Die Österreicher sind Ende 2015 mit ihrer nationalen elektronischen Gesundheitsakte ELGA in den Echtbetrieb gegangen.

Es handelt sich um eine dezentrale Akte, bei der der Zugriff auf die Patientendaten über einen zentralen Index erfolgt, die Daten aber nicht - wie in den skandinavischen Ländern - als Kopien auf zentralen Servern gespeichert werden.

Schon nach sieben Wochen waren über 200.000 Patientendatensätze angelegt worden, im ersten Schritt nur von Krankenhäusern. Ab 2017 werden auch niedergelassene Ärzte an das ELGA-System angedockt, zwei Jahre später sollen dann Zahnärzte folgen.

Zugriff auf die Akte ohne Kartenlesegerät

Österreich ist deswegen ein schönes Beispiel, weil es dort wie bei uns eine Patientenkarte gibt. Sie kann von den Patienten für einen eigenständigen Zugriff auf die ELGA-Daten genutzt werden.

Mit Hilfe einer modernen Handy-Signatur-Technologie funktioniert der Patientenzugriff aber auch ohne Karte und damit ohne Kartenlesegerät.

Dass auch elektronische Arztkarten im Alltag funktionieren können, zeigt Belgien, dessen Gesundheitswesen dem deutschen vergleichbar ist. Dort wurden 2014 E-Rezepte eingeführt, die Ärzte per Chipkarte signieren und die mittlerweile von der Mehrheit der Ärzte genutzt werden.

 In Finnland werden Papierrezepte Ende dieses Jahres komplett abgeschafft. Auch wenn es angesichts der Mühen bei der Telematikinfrastruktur nicht so scheinen mag: Die Realität ist, dass Deutschland in Sachen Gesundheits-IT in vielen Bereichen zu den globalen Vorreitern gehört.

Kaum ein anderes Land hat eine derart dynamische Entwicklerszene im Bereich mobile Gesundheitsanwendungen. Dass Krankenkassen wie die Barmer GEK und die Techniker Apps für Patienten mit Augenfehlern oder mit Tinnitus erstatten, gibt es so nirgendwo sonst.

Bahnbrechende Leistungen in Deutschland

Auch bei den IT-Lösungen für die vernetzte klinische Forschung wird in Deutschland Bahnbrechendes geleistet. Die Technologie- und Methodenplattform TMF hat dafür IT-Architekturen und Datenschutzkonzepte entwickelt, die weltweit Aufmerksamkeit finden.

Gerade erst ist das deutsche Konsortium für translationale Krebsforschung mit seiner Clinical Communications-Plattform in den Echtbetrieb gegangen, die (auch) auf die TMF zurückgeht und die es erlaubt, unter Einhaltung aller Datenschutzanforderungen Patientendatenabfragen im gesamten Netzwerk durchzuführen.

Von eher klinischer Seite hat sich jüngst die Deutsche Gesellschaft für Innere Medizin hervorgetan, die E-Health bei ihrer Jahrestagung zu einem Schwerpunkt gemacht hat.

Die Kassenärzte haben den elektronischen Arztbrief für sich entdeckt und vermelden aus ihrem Pilotprojekt jetzt immerhin 12.000 verschickte Briefe.

 Die niedergelassenen Kinderärzte haben mit PädExpert eine bemerkenswerte Plattform für Telekonsultationen zwischen Allgemeinpädiatern und spezialisierten Kollegen geschaffen, und erste Krankenkassen bezahlen das auch.

Selbst das Telemonitoring bei chronischen Erkrankungen ist auf dem Vormarsch: In Deutschland läuft die weltweit größte, randomisierte Studie zum Herzinsuffizienz-Telemonitoring. Und Krankenkassen wie die AOK Nordost schreiben sich das Thema groß auf die Fahnen.

Es wird nicht überall gebremst

Es stimmt also nicht, dass überall nur gebremst wird. Was bisher nicht funktioniert, ist eine bundesweite Infrastruktur.

Und was in Deutschland außerhalb der Radiologie auch überhaupt nicht funktioniert, sind internationale Standards. Ersteres ist nur ärgerlich, letzteres wird auf Dauer ein echtes Problem werden.

Kein Arzt wird bereit sein, ein Dutzend unterschiedliche elektronische Plattformen zu bespielen. Kein Patient wird zwanzig unterschiedliche Gesundheits-Apps nutzen wollen.

Das viel gepriesene Interoperabilitätsverzeichnis des E-Health-Gesetzes wird bestenfalls in zwei Jahren eine dann völlig unverbindliche Liste an Standards präsentieren. Das ist spät, vor allem angesichts dessen, dass derartige Listen auf europäischer Ebene längst begonnen wurden.

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