Digitalisierung und rtCGM

"Ärzte bleiben trotz Apps in der Diabetes-Versorgung die Entscheider"

Vom Produkt- zum Systemanbieter. Wie rtCGM und Digitalisierung die Welt für Ärzte und Diabetiker verändern und welche Rolle die Industrie dabei spielen kann, erläutert Lars Kalfhaus, Geschäftsführer von Roche Diabetes Care Deutschland, im Interview.

Hauke GerlofVon Hauke Gerlof Veröffentlicht:
Lars Kalfhaus, Geschäftsführer Roche Diabetes Care Deutschland.

Lars Kalfhaus, Geschäftsführer Roche Diabetes Care Deutschland.

© Roche

Ärzte Zeitung: Herr Kalfhaus, das Diabetes-Management ist gerade dabei, mit Hilfe digitaler Technik einen Quantensprung zu machen. Roche Diabetes Care ist mit eigenen Angeboten mittendrin. Wie stellen Sie sich die Zukunft in diesem Bereich vor?

Lars Kalfhaus: Die Digitalisierung ist in der Tat ein Quantensprung, aber so etwas erleben wir nicht zum ersten Mal. Vielleicht hilft zuerst ein Blick zurück: Vor etwa 40 Jahren hat es im Diabetes-Management mit der Einführung der Blutzuckerselbstkontrolle einen ähnlichen technologischen Sprung gegeben. Die Patienten hatten mit Messgerät und Teststreifen plötzlich ein kleines Labor in der Hand. Damals hat sich in der Versorgung viel verändert, neue Berufsgruppen entstanden, vor allem die Diabetes-Beraterinnen, die die Schulung der Patienten übernahmen. Wir – damals noch Boehringer Mannheim – haben uns in der Zeit bei Schulungsprogrammen und mit der Entwicklung der Messgeräte stark engagiert. Das Ergebnis waren eine veränderte Versorgungsstruktur und bessere Therapieergebnisse sowie eine höhere Lebensqualität für Patienten.

… und heute?

Wir stehen heute an einem ähnlichen Scheideweg, mit gleich zwei wesentlichen Technologien, die vieles in der Versorgung verändern werden: Mit der Einführung der kontinuierlichen Glukosemessung in Echtzeit (rtCGM) kommen wir zu einer kontinuierlichen Datenbetrachtung – statt vier bis fünf Punktbetrachtungen pro Tag sozusagen ex post mit den Teststreifen. Die zweite Technologie ist die Digitalisierung.

Was hilft das?

Wissen Sie, die Ergebnisqualität bei Diabetikern ist heute immer noch nicht da, wo sie sein könnte und sollte. Einer der Gründe dafür ist , was in der Literatur therapeutische Trägheit oder therapeutic inertia genannt wird. Digitalisierung kann diese Trägheit überwinden helfen. Wir suchen nach Lösungen für eine bessere Versorgung. Dafür sind Produktinnovationen wichtig, aber wir müssen auch in Versorgungsprozessen denken. Digitalisierung hilft, vernetzte, interoperable Systeme zu entwickeln, die Patienten, aber auch Praxen Entscheidungsunterstützung vermitteln – im Alltag mit Mahlzeiten und Bewegung, aber auch bei der Nutzung der anfallenden Daten, etwa aus der CGM, von Smart Pens und von Schrittzählern usw. Wir müssen die relevanten Daten herausfiltern, und wir müssen sie effizient bereitstellen, damit die Daten sinnvoll genutzt werden können. Wenn wir das gut machen, bleibt am Ende sogar mehr Zeit als bisher für das Arzt-Patienten-Gespräch, trotz der Datenflut. Die Technik kann so dafür sorgen, dass für den menschlichen Faktor, der so wichtig ist, mehr Zeit bleibt.

Wird es in einigen Jahren nur noch die kontinuierliche Blutzuckermessung geben?

Die Blutzuckerselbstmessung mit Teststreifen wird zumindest mittelfristig erhalten bleiben. CGM kommt noch vor allem bei Typ-1-Diabetikern zum Einsatz. Auch bei Typ-2-Diabetikern könnte die CGM teilweise eingesetzt werden, aber wir müssen hier aufpassen, dass wir nicht zu viele Daten generieren, die am Ende für den Einzelnen nicht handhabbar sind.

Welche Perspektiven hat die Technik?

CGM entwickelt sich rasant weiter. Bislang sind die meisten Systeme immer noch nadelbasiert, was dazu führt, dass sie nach ein bis zwei Wochen gewechselt werden müssen. Das wird sich in Zukunft sicher ändern. Mit dem Eversense-CGM System, das in der Diabetologen-Praxis in vielleicht zwei bis drei Minuten mit einem kleinen Schnitt unter der Haut platziert wird, haben wir bereits heute eine Tragedauer von 90 Tagen. In ersten Studien mit der nächsten Sensorengeneration lag die Tragedauer sogar bei bis zu 180 Tagen. Das Spannende an der rtCGM ist, dass wir ein ganz neues Bild über den Stoffwechselverlauf gewinnen. Durch die Kurvenbetrachtung können wir deutlicher sehen, in welche Richtung sich der Stoffwechsel entwickelt und quasi prospektiv Maßnahmen einleiten. Dadurch können wir die Therapie auf ein neues Niveau heben.

Geben Diabetiker mit einer solchen Rundum-Betreuung nicht letztlich einen Teil ihrer Verantwortung an die digitale Technik ab?

Die Frage ist doch: Was geben Diabetiker ab und was gewinnen sie dazu? Assistenzsysteme sollen das Denken nicht ersetzen, sondern helfen, Lebensqualität zu steigern. Mit der intelligenten Technik können Patienten viele der lästigen Dinge des Alltags mit Diabetes abgeben, das kann ein enormer Motivationsfaktor in der Therapie sein. Gleichzeitig kann die Technik helfen, mit der Datenflut umzugehen. Entscheidend ist natürlich, dass ein Patient das Verständnis hat, mit der Krankheit umzugehen.

In welche Fallen können Patienten – und Ärzte – tappen, wenn sie mit den Kurven umgehen? Das ist ja etwas ganz anderes als mit fünf Blutzuckermessungen am Tag.

Am Anfang kann es ganz klar zu Überreaktionen in der Therapieanpassung kommen. Bei der Realtime-Betrachtung verlieren manche etwas die Gelassenheit und meinen, sofort reagieren zu müssen. Bei den Schulungsprogrammen kommt es daher darauf an, dass Patienten lernen, nicht hektisch auf Veränderungen des Glukoseverlaufs zu reagieren. Technologie-Gläubigkeit nach dem Motto, ich muss mich nicht mehr kümmern, wird aber ebenfalls nicht funktionieren. Technik allein führt nicht zu besseren Therapieresultaten, deshalb müssen z. B. Schulungsprogramme flächendeckend umgesetzt werden. Und die Vergütung für die Schulung muss so gut sein, dass die Innovation am Ende auch in der Versorgung ankommt.

Noch treten die Krankenkassen bei neuen Anwendungen eher auf die Bremse. Diabetologen klagen darüber, dass für die Schulungen der Diabetiker viel zu wenig Geld fließt. Zu Recht?

Wir müssen eruieren, ob wir grundsätzlich zu einem neuen Vergütungssystem kommen und beispielsweise auch Ergebnisqualität honorieren. Was die Kosten für die neuen Produkte im Diabetes-Management angeht, würden wir eine befristete Vergütung neuer Systeme anregen, damit der Nutzen in dieser Zeit nachgewiesen werden kann. In Deutschland ist der Weg bis zum Einsatz neuer Produkte in der Regelversorgung lang. Selbst der positive Beschluss des Gemeinsamen Bundesausschusses zu rtCGM-Systemen ist bisher noch nicht genug für den Zugang zur Regelversorgung.

Wie ist die Rolle der Apps und des dahinter geschalteten Telemonitorings einzuschätzen, das teilweise durch spezielle Callcenter angeboten wird? Treten die Ärzte bei der Diabetiker-Versorgung in den Hintergrund?

Nein, die Ärzte treten nicht in den Hintergrund, es geht letztlich um eine komplementäre Tätigkeit, die Ärzte und ihre Teams unterstützt. Es ist wissenschaftlich belegt: Je mehr Coaching und Wissensvermittlung stattfindet, desto besser sind die Ergebnisse. Aber mehr Coaching in der Praxis ist einfach nicht abbildbar und finanzierbar. Über den App-Ansatz ist dieses Coaching skalierbar, aber natürlich muss der Arzt vernetzt sein mit diesem System. Ärzte bleiben die Entscheider und können sich besser auf die wirklich schwierigen Fälle konzentrieren. Für alle anderen genügt ein persönlicher Kontakt einmal im Quartal, und den "Rest" übernimmt dann die Technik. Letztlich haben die Ärzte dadurch einen höheren Wirkungsgrad für die Umsetzung ihrer Therapie.

Und wer soll die Apps refinanzieren?

Das ist eine der großen ungeklärten Fragen in diesem Gebiet. Teilweise betreiben Krankenkassen selbst schon solche Callcenter und geben Zugangsmedien für diese Apps aus. Es wird kaum darauf hinauslaufen, dass Patienten das selbst bezahlen müssen, außer besondere Premium-Dienste.

Roche Diabetes Care hat kräftig in die Plattform mysugr.com investiert. Welche Möglichkeiten bietet diese Plattform Ärzten und Patienten?

Die Mysugr-Plattform ist mit ihren Funktionalitäten sehr nah an der Lebenswirklichkeit der Patienten, intuitiv, nutzerfreundlich. Über spielerische Aspekte der App erhalten Patienten Anreize, sich mit ihrem Diabetes auseinanderzusetzen. Und wenn ein Messsystem wie Accu-Chek Guide damit auslesbar ist, dann führt das dazu, dass viele Patienten erstmals wieder ein Tagebuch mit den Werten pflegen. Das hilft Arzt und Patient, mehr Überblick für die gemeinsame Therapiebesprechung zu bekommen. Spannend gerade für Praxen ist auch unsere Diabetes-Management-Software SmartPix 3.0. Hier emanzipieren wir uns von dem Gedanken der Geräte-Exklusivität, das System ist für viele gängige Geräte offen und kann auch Daten aus Blutzuckermessgeräten, Insulinpumpen, CGM oder Smart Pens verarbeiten, die nicht von Roche Diabetes Care stammen. Die Software bieten wir im Rahmen eines Servicevertrags für Ärzte an.

Wie stark verbreitet ist das Programm?

Es ist seit September auf dem Markt, und wir haben schon eine gewisse Marktabdeckung bei Diabetologen erreicht.

Inwiefern könnten sich die Investitionen von Roche Diabetes Care, zum Beispiel in die App mysugr und in Software für Sie auszahlen?

Die App mysugr allein sicher nicht. Aber als Lösungspaket zum Beispiel für Krankenkassen inklusive Coaching, vom Arzt koordiniert, auch mit der App, das könnte auf Dauer ein gutes Modell sein.

Welche weiteren Projekte in Sachen Diabetes und Digitalisierung haben Sie derzeit noch in der Pipeline?

Zurzeit stehen auch die Primärprävention und die Sekundärprävention von Typ-2-Diabetes ohne Insulingabe sowie der Prädiabetes im Fokus. Mit Hilfe von Schrittzählern und Messgeräte-Anbindung wollen wir in unserem Accu-Chek View Programm präventiv vor der Manifestation des Diabetes eingreifen, damit Ärzte durch eine Lebensstilberatung vorab noch etwas bewirken können. Unsere Studien zeigen eine hoch signifikante Gewichtsreduktion, wir publizieren das gerade.

Werden Sie eigentlich in Zukunft eigentlich eher ein Software-Unternehmen als ein Diagnostika-Hersteller alter Prägung sein?

Wir sind ein Diabetes-Care-Anbieter neuer Prägung. Wir verkaufen nicht mehr einzelne Produkte, sondern wir werden zum System- und Lösungsanbieter. Gemeinsam mit allen an der Versorgung Beteiligten wollen wir Diabetes weiter denken, d.h. die Chancen digitaler Tools und strukturierter Prozesse nutzen, um Patienten wieder mehr in den Mittelpunkt zu stellen und ihnen die bestmögliche Versorgung zukommen zu lassen.

Lars Kalfhaus - Aktuelle Position: Geschäftsführer der Roche Diabetes Care Deutschland GmbH in Mannheim

Werdegang: Sechs Jahre Geschäftsführer der Roche Diabetes Care Spain S. L. und Leiter des Management Center Iberia. Zur gleichen Zeit hat er als Geschäftsführer der Emminens Healthcare Services S. L. ein Roche internes Start-up aufgebaut, das fokussiert ist auf Entwicklung und internationale Vermarktung innovativer Digital-Health-Lösungen zur Diabetesversorgung.

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