Deutsche Wirtschaft in Champagner-Laune

Die Industrie in Deutschland zeigt sich bester Stimmung. Auf Jahre hinaus könnte die Republik Europas Wachstumsmotor bleiben.

Von Harald Schmidt und Sebastian Raabe Veröffentlicht:
Prickelnde Stimmung: Für die Wirtschaft darf es jetzt statt Sekt die französische Edelvariante sein.

Prickelnde Stimmung: Für die Wirtschaft darf es jetzt statt Sekt die französische Edelvariante sein.

© Kati Molin/fotolia.com

MÜNCHEN. Das deutsche Wirtschaftswunder setzt sich fort, Experten und Laien reiben sich verwundert die Augen. Denn während angesichts täglich neuer Schreckensmeldungen über Finanzierungsprobleme mehrerer Euro-Staaten schon das Ende der Gemeinschaftswährung an die Wand gemalt wird, ist die Stimmung in den deutschen Unternehmen weiter glänzend. Auch steigende Rohstoffkosten und Energiepreise, die die Fertigung verteuern und die Inflation anheizen, können den Aufschwung bisher nicht stoppen.

Experten erwarten nach dem phänomenalen Quartalsplus der deutschen Wirtschaft zum Jahresauftakt von 1,5 Prozent, dass Deutschland auf Jahre Europas Konjunkturlokomotive bleibt. Im laufenden Jahr wird ein Wachstum von bis zu 3,5 Prozent erwartet. Die Berenberg-Bank sieht Deutschland vor einem Goldenen Jahrzehnt. Wirtschaftsminister Philipp Rösler (FDP) frohlockt: "Unsere Unternehmen investieren kräftig und schaffen neue Arbeitsplätze. Unsere Wirtschaft befindet sich ... auf einem guten Wachstumspfad."

Deutschland verfügt über gute Rahmenbedingungen

Denn während andere lange über ihre Verhältnisse lebten, wurden hierzulande die Hausaufgaben gemacht: Die Unternehmen sind im globalen Wettbewerb gut aufgestellt, und sie können flexibel auf Nachfrageschwankungen reagieren. Der deutsche Arbeitsmarkt ist robust, die Zahl der Erwerbstätigen erreicht immer neue Rekorde. Im ersten Quartal 2011 wurde die deutsche Wirtschaftsleistung von 40,4 Millionen Erwerbstätigen im Inland erbracht - das waren 552.000 Menschen mehr als ein Jahr zuvor.

Zudem ist die deutsche Staatskasse zwar nicht prall gefüllt, aber von einem gigantischen Loch wie in Japan oder den USA oder wie in anderen Euroländern von Belgien über Italien bis Griechenland ist Berlin meilenweit entfernt. Wie das Statistische Bundesamt bestätigte, lag das staatliche Finanzierungsdefizit in Deutschland 2010 bei 3,3 Prozent des Bruttoinlandsproduktes (BIP). In diesem Jahr will Deutschland die EU-Defizithürde von maximal drei Prozent des BIP nicht mehr reißen.

Das alles hebt die Stimmung in den deutschen Unternehmen, trotz der vielen Risiken, die weltweit Märkte und Menschen bedrohen. "Die Konjunkturampeln in Deutschland stehen nach wie vor auf grün", sagt ifo-Chef Hans-Werner Sinn. Der ifo-Index verharrt nach zwei kleinen Dämpfern im Mai auf dem noch immer sehr hohen Niveau des Vormonats. Der wichtigste Frühindikator der deutschen Wirtschaft narrt damit wieder Experten, die einen leichten Rückgang prophezeit hatten. Die Rekordfahrt wird aber wohl nicht ungebremst weitergehen.

Dennoch: Von einer Trendwende ist weit und breit nichts zu spüren, zumal Europas Währungshüter die Investitionsbereitschaft mit weiterhin niedrigen Zinsen beflügeln werden. Die prekäre Situation in einigen Euroländern verhindere ein stärkeres Drehen an der Zinsschraube, ist Commerzbank-Chefvolkswirt Jörg Krämer überzeugt.

Aufschwungtempo dürfte sich bald verringern

Nur das hohe Tempo des Aufschwungs dürfte sich verlangsamen, doch das muss nicht mal schlecht sein. "Weder Autos noch die Konjunktur können ständig im roten Drehzahlbereich fahren", sagt der Konjunkturexperte der DekaBank, Andreas Scheuerle. Auch die Wirtschaft könne überhitzen, eine langsamere Gangart sei durchaus zu begrüßen. Deutschland dürfte trotz allem auf Jahre hinaus ein stabiler Wachstumsmotor in Europa bleiben. Nach einer atemberaubenden Aufholjagd ist der Vorkrisenstand inzwischen wieder erreicht.

Gerade die Industrie rechnet fest mit einer nachlassenden Dynamik. Dennoch werden in den kommenden Monaten viele neue Jobs entstehen. Etwa im Automobilbau wird seit vielen Wochen an der Kapazitätsgrenze gearbeitet, die Hersteller kommen kaum noch nach. Selbst Branchen, die zuvor mit erheblichen Schwankungen zu kämpfen hatten, wie die Halbleiterindustrie, müssen mühsam Produktionsstätten ausbauen. Eine Atempause dürfte auch hier eher helfen, als nachhaltig stören.

Schon jetzt bekommen viele Betriebe den lange befürchteten Fachkräftemangel zu spüren. Hoch qualifizierte Mitarbeiter sind rar, vor allem Ingenieure fehlen an allen Ecken und Enden. Das dürfte in vielen Branchen auch die Löhne steigen lassen - mit einiger Verzögerung wird der Aufschwung dann auch bei den Bürgern ankommen, die in Lohn und Brot stehen.

Bislang profitieren Arbeitnehmer nach den Daten der Statistiker jedenfalls unterproportional vom Aufschwung: Während das Arbeitnehmerentgelt (im Vergleich zum Auftaktquartal 2010) um 4,3 Prozent anstieg, verzeichneten die Unternehmens- und Vermögenseinkommen einen etwa doppelt so hohen Zuwachs (+ 8,7 Prozent). Das dürfte ein Grund für den privaten Konsum sein, der trotz der ungewöhnlich stabilen Lage am Arbeitsmarkt nur zögerlich in Schwung kommt.

Ernsthafte Sorgen bereiten Ökonomen derzeit allenfalls die steigenden Preise etwa für Lebensmittel, kletternde Mieten und höhere Energiekosten. Unicredit-Volkskwirt Andreas Rees traut den Deutschen zu, ihre panische Angst vor Inflation wachstumswirksam einzusetzen - indem sie in Immobilien investieren. Schließlich dümpele der deutsche Immobilienmarkt seit fast zwei Jahrzehnten vor sich hin, und Hypotheken sind noch immer günstig. (dpa)

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