Krise 2.0 - miese Stimmung an der Wall Street

Schuldenkrise, Wirtschaftsflaute, schärfere Gesetze: Die Wall Street sieht sich einer Flut von Problemen gegenüber. Gleichzeitig etabliert sich auch in der Bevölkerung ein breiter Protest gegen die Banken.

Von Daniel Schnettler und Chris Melzer Veröffentlicht:
Demonstranten in New York: Sie sind gegen die Macht der Banken und für ein neues Sozialsystem in den USA.

Demonstranten in New York: Sie sind gegen die Macht der Banken und für ein neues Sozialsystem in den USA.

© dpa

NEW YORK. An der Wall Street liegen die Nerven blank. "Das Umfeld im August war absolut brutal", sagt Richard Handler, Chef der US-Investmentbank Jefferies, als er die jüngsten Zwischenergebnisse seines Hauses verkündet.

Und er setzt noch einen drauf: "Der August war der drittschlimmste Monat in der Geschichte der US-Anleihemärkte nach dem September und Oktober 2008." Damals war Lehman Brothers pleitegegangen und die Finanzkrise nahm ihren Lauf.

Lehman-Schreckgespenst geht schon wieder um

Das Lehman-Schreckgespenst geht nun schon wieder um. Die Euro-Schuldenkrise und die schwache US-Wirtschaft lähmen das Geschäft der Banken.

Erschwerend hinzu kommen die Altlasten der Krise von 2008: Viele Hausbesitzer können bis heute ihre Kreditschulden nicht begleichen, damals geschädigte Investoren verlangen milliardenschweren Schadenersatz von den Banken, und die staatlichen Aufsichtsbehörden ziehen die Zügel an. All das schmälert die Gewinne.

KBW Bank Index um 30 Prozent eingebrochen

Etliche Anleger sind angesichts der üblen Gemengelage bereits aus Finanztiteln geflüchtet: Seit Jahresbeginn ist der KBW Bank Index, der die Aktien von 24 größeren US-Kreditinstituten umfasst, um rund 30 Prozent eingebrochen.

Ausgerechnet bei der schwergewichtigen Bank of America stellt sich die Lage besonders drastisch dar: Hier hat sich der Aktienkurs glatt halbiert. Das ist Gift für die Stimmung an der Wall Street.

Bank of America bereitet Sorgen

Die Bank of America ist der Sorgenfall der Branche. Alleine im ersten Halbjahr summierte sich das Minus auf 7,4 Milliarden Dollar (5,4 Mrd. Euro). Die einflussreiche Ratingagentur Moody's hält mittlerweile sogar eine Pleite für grundsätzlich denkbar und stufte die Kreditwürdigkeit jüngst herunter.

Moody's sieht auch bei anderen wichtigen Häusern eine gestiegene Gefahr, dass sie umkippen könnten. Die Auswirkungen einer Pleite wären unabsehbar: Die Bank of America hat fast viermal so viele Vermögenswerte in ihren Büchern stehen wie Lehman Brothers. Sie besitzt eines der dichtesten Filialnetze des Landes und Millionen Kunden.

Früher hätte sie als "too big to fail" gegolten - zu groß, um unterzugehen. Doch diese Zeiten sind nach Ansicht von Moody's vorbei: Die Wahrscheinlichkeit, dass die Regierung rettend eingreife, sinke. Der Staat ist selbst schuldengeplagt und geschwächt durch die letzte Krise.

"Hire in Fire" in Reinform

Viele Banker stehen auch ohne das Horrorszenario einer Pleite vor einem Absturz: Bei der Bank of America fallen im Rahmen eines Sparplans in den kommenden Jahren 30.000 Jobs weg. Und selbst bei wesentlichgesünderen Rivalen wie JPMorgan Chase oder Goldman Sachs droht Mitarbeitern die Kündigung.

Diejenigen, die bleiben dürfen, müssen sich auf schrumpfende Bonuszahlungen einstellen.So war es schon immer an der Wall Street: In guten Zeiten quellen die Lohntüten über; in schlechten Zeiten fliegen die Leute gnadenlos raus.

"Hire and Fire" in Reinform. Ungewöhnlich aber ist der kurze Abstand zwischen Boom und Niedergang. Dass auf eine Krise direkt die nächste folgt, nagt am Nervenkostüm.

Mit bösen Überraschungen wird gerechnet

Analysten haben reihenweise ihre Gewinnschätzungen für die großen US-Banken zusammengestrichen. Mitte Oktober wird die Stunde der Wahrheit folgen. Dann verkünden die Wall-Street-Häuser Ergebnisse für das dritte Quartal. Böse Überraschungen dürften kaum ausbleiben.

Gleichzeitig entsteht ein breiter Protest in der Bevölkerung gegen die Banken. Jüngst haben mehr als 5000 Demonstranten, Studenten, Schüler, Gewerkschaftler und Rentner gegen die Macht der Banken und für ein neues Sozialsystem in den USA demonstriert.

"Wir sind die 99 Prozent" stand auf Plakaten - ein gewollter Gegensatz zum reichsten Prozent der Bevölkerung der USA, das nach Ansicht der Demonstranten viel zu viel Macht hat.

Aus Studentenprotest wurde Massenbewegung

Es war der größte Protest, seit vor etwa drei Wochen die Aktion "Occupy Wall Street", "Besetzt die Wall Street" begann. Die Kampagne einiger Studenten ist längst ein breiter Protest. Mittlerweile gab es auch weitere Proteste in anderen US-Städten wie Boston oder Washington.

Die Protestler riefen in Sprechchörennach einer höheren Besteuerung der Banken. "In den letzten 30 Jahren sind die Reichen superreich geworden. Aber die Arbeiter haben immer mehr Probleme, alle Rechnungen zu bezahlen", sagt Demonstrant Dave Stump. Er will schlicht höhere Steuern für Konzerne. "Es kann doch nicht war sein, dass einige Multis nicht einen Dollar Steuern zahlen!"

Neben ihm steht Joe Harkins, 78 Jahre und Veteran des Koreakrieges. "Damals haben wir für Werte gekämpft", brummt er. "Für Freiheit und Bürgerrechte. Ich bin hier, weil diese Rechte immer weiter beschnitten werden."

Am Zuccotti-Park hat alles angefangen

Angefangen hat alles mit einem Häufchen junger Leute am Zuccotti-Park nahe der Wall Street. Sie kampieren in Schlafsäcken und fordern eine stärkere Beteiligung der Banken an den Kosten der Krise.

Eigentlich sind das Leute, mit denen sich arbeitskampfgestählte Gewerkschafter nicht abgeben. Studenten, die das harte Erwerbsleben nicht kennen, finden in der Regel nicht die Anerkennung von Arbeitern, die seit dem 16. Lebensjahr acht, neun Stunden Arbeit am Tag gewohnt sind.

Gewerkschaften mischen mit 

Diesmal ist es anders, diesmal sind die Gewerkschaften mit dabei. "Wir wollen doch das Gleiche", sagt Mick Renner. "Ich bin Arbeiter und ich will von meinem Lohn leben. Das ist doch das einfachste Recht, dass man sich vorstellen kann. Warum ist das in diesem Land keine Selbstverständlichkeit."

Ein anderer Gewerkschafter nennt die Aktivisten "schon ein bisschen irre". "Aber sie haben auf die Probleme von Millionen Amerikanern aufmerksam gemacht". Kurze Pause. "Respekt. Die haben wirklich meinen Respekt."

Was wollen die Demonstranten?

Dabei ist immer noch nicht klar, was die Demonstranten eigentlich wollen. Die Macht der Banken beschneiden, sie mehr verpflichten, das Sozialsystem verbessern - aber wie? Klare Forderungen etwa nach Sondersteuern, Änderungen des Sozialrechts oder schärferer Verfolgung von Wirtschaftskriminalität sucht man vergebens.

Und der Haufen der Demonstranten ist bunt, von Umweltschützern bis Abtreibungsbefürwortern, von Arbeitskämpfern bis Sozialreformern, von Todesstrafengegnern bis zu Tierschützern. Eine Tea Party von links. "Wir sind die 99 Prozent, die die Gier und Bestechung des einen Prozents nicht mehr hinnehmen wollen", heißt es in Aufrufen in Anspielung auf Amerikas reichstes Prozent der Bevölkerung.

"Dieses Land ist so reich und trotzdem geht es vielen so dreckig"

"Da läuft einfach etwas falsch", schimpft Paul Derose. "Dieses Land ist so reich und trotzdem geht es vielen so dreckig." Er hebt sich mit seiner Krawatte von den typischen Demonstranten ab. "Eigentlich bin ich Landschaftsgärtner. Aber die Krise zwingt mich dazu, als Verkäufer zu arbeiten."

Im nächsten Jahr sind Wahlen. "Ich war immer Demokrat", sagt Derose nachdenklich. "Aber im nächsten Jahr habe ich nur die Wahl zwischen "ganz furchtbar" und "noch übler"." (dpa)

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