Versorgungsengpass?

Bei Medizinprodukteverordnung ist die EU noch am Zuge und nicht am Pranger

Die Medizintechnikbranche hat Gehör bei Bundesgesundheitsminister Jens Spahn gefunden. Der fordert von der EU nun mit Blick auf die ab Mai 2020 greifende EU-Medizinprodukteverordnung eine Entschärfung der Übergangsfrist für bestimmte Produkte.

Matthias WallenfelsVon Matthias Wallenfels Veröffentlicht:
Gerade bei chirurgischen Instrumenten könnten künftig Engpässe drohen.

Gerade bei chirurgischen Instrumenten könnten künftig Engpässe drohen.

© Tobilander / stock.adobe.com

Am 26. Mai nächsten Jahres wird die novellierte EU-Medizinprodukteverordnung (Medical Device Regulation/MDR) scharf geschaltet. Dann unterliegen weit mehr Medizinprodukte als bisher höheren Anforderungen an das Konformitätsbewertungsverfahren, müssen sich die Hersteller für die Zertifizierung ihrer Produkte – und damit für die Marktzulassung – an eine Benannte Stelle (BS), ein privates Unternehmen wie zum Beispiel den Tüv, wenden.

Für Implantate der Klasse III und Produkte der Klasse IIb, die Arzneimittel zuführen oder ableiten, wird das „Scrutiny-Verfahren“ neu eingeführt. Um die Entscheidung der betreffenden BS überwachen zu können, muss diese die Unterlagen, anhand derer sie das Konformitätsbewertungsverfahren durchgeführt hat, sowie ihre eigenen Materialien dazu an die EU-Kommission weiterleiten, die wiederum ein unabhängiges Expertengremium mit der Supervision beauftragen kann, dies aber nicht muss.

Die strengeren Auflagen sind als europäische Antwort auf den „PIP-Skandal“ zu sehen, in dessen Konsequenz tausenden Frauen weltweit minderwertige, mit Industriesilikon befüllte Brustimplantate des mittlerweile insolventen französischen Herstellers Poly Implant Prothèse wieder explantiert werden mussten.

Französische Behörden hatten den Vertrieb der Pfusch-Implantate im April 2010 verboten. Bei der juristischen Aufarbeitung der Causa PIP ging es nicht zuletzt um die Anforderungen, denen eine BS im Konformitätsbewertungsverfahren genügen muss, um an Staates Stelle die Medizinproduktzertifizierung vornehmen zu dürfen.

Warnrufe bereits beim Gesetzgebungsverfahren

Anders als bei einer EU-Richtlinie haben die Mitgliedstaaten bei einer EU-Verordnung wie der MDR keinen einzelstaatlichen Umsetzungs-Spielraum. Daher begleitete die europäische Medizintechnikbranche den MDR-Gesetzgebungsprozess besonders engmaschig und gab stets die Spezifika der Branche – und die damit begrenzte Handlungsfähigkeit in finanzieller wie auch regulatorischer Hinsicht – zu bedenken. So zählen nach Angaben des Bundesverbandes Medizintechnik (BVMed) 93 Prozent der deutschen Branchenunternehmen jeweils weniger als 250 Mitarbeiter, sind also kleine und mittelständische Unternehmen (KMU), darunter viele Familienunternehmen.

Viele KMU seien doppelt von der MDR gebeutelt, hieß es bereits im Mai 2016 bei einer BVMed-Branchenveranstaltung in Bonn: Zum einen stellten sie die zu erwartenden, strengeren Zertifizierungsanforderungen vor zusätzliche Hürden. Zum anderen fehlten einem Großteil der Unternehmen Fachkräfte mit der Qualifikation für einen MDR-konformen Antrag auf das Konformitätsbewertungsverfahren bei einer BS.

Die Benannten Stellen wiederum suchten ihrerseits hunderte, wenn nicht sogar tausende Fachkräfte, um gerade den KMU die umfassenden regulatorischen Dienstleistungen für ihre Medizinprodukte mit Blick auf die MDR-Anforderungen anbieten zu können. Erschwerend für die BS kommt hinzu, dass diese sich ihrerseits erst rezertifizieren lassen müssen, um überhaupt wieder Konformitätsbewertungen durchführen zu dürfen.

Mit der britischen BSI Group und dem Tüv Süd haben bisher nur zwei von geschätzten 57 BS, die den rund 27.000 europäischen Medizintechnikunternehmen in Zukunft als Ansprechpartner für die EU-Marktzulassung dienen sollen, diese Rezertifizierung erlangt – viele osteuropäische der ehemals knapp 90 BS streben keine Rezertifizierung mehr an. Wie einer am Freitag bekannt gewordenen Antwort der Bundesregierung auf eine Anfrage der FDP zu entnehmen ist, lagen der EU-Kommission Anfang Juli erst 41 Anträge Benannter Stellen auf eine Rezertifizierung vor.

Um Versorgungsengpässe zu vermeiden, gilt für viele Medizinprodukte zwar eine Übergangsfrist bis 2024, bis diese dann im Zuge eines Antrags bei einer BS auf Zertifikatsverlängerung den MDR-Anforderungen genügen müssen. Ebenfalls bis 2024 sicher ist, wer für seine im Markt befindlichen Produkte höherer Risikoklassen vor dem 26. Mai 2020 einen Antrag auf Zertifikatsverlängerung gestellt hat.

Eine Ausnahme gilt laut Bundesregierung aber für Medizinprodukte der Klasse I, die im Zuge der MDR einer höheren Risikoklasse zugeordnet oder der für wiederverwendbare chirurgische Instrumente neu geschaffenen Untergruppe Ir zugewiesen werden. Für Letztere sehe Bundesgesundheitsminister Jens Spahn mögliche Engpässe im Versorgungsgeschehen, wie es in der Regierungsantwort heißt.

Die Mühlen der EU mahlen gewohnt langsam

Deshalb habe der Minister bereits im Frühjahr 2018 die zuständige EU-Kommissarin Elzbieta Bienkowska aufgefordert, darzulegen, welche Maßnahmen die EU-Kommission erwäge, um zu verhindern, dass es zu ellenlangen Verspätungen bei den BS kommt.

Zuletzt habe Deutschland zusammen mit Irland am 14. Juni in Luxemburg bei der Sitzung des Europäischen Rates für Beschäftigung, Sozialpolitik, Gesundheit und Verbraucherschutz (EPSCO) eine politische Diskussion angestoßen – um „den Anwendungsbereich der Übergangsregelungen nach Artikel 120 Absatz 3 MDR auf höherklassifizierte Klasse-I-Produkte und zukünftige Klasse-Ir-Produkte auszudehnen, damit für diese Produkte die gleiche Rechtslage wie auch für die nach alter Rechtslage zertifizierten Produkte gilt.“

Die Mühlen der EU scheinen indes gewohnt langsam zu mahlen. Es ist nicht auszuschließen, dass die EU-Kommission erst reagiert, wenn es zu ersten Versorgungsengpässen gekommen und die Patientensicherheit realiter gefährdet ist.

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