Vernetzte IV: Arzt und Patient auf Augenhöhe

Arztpraxen und Praxisnetze können erfolgreich eine sektorenübergreifende Versorgung steuern. Aber nur dann, wenn alle Beteiligten über die Spielregeln im System Bescheid wissen, mahnt ein Netzmanager.

Von Sabine Schiner Veröffentlicht:
Ziehen Arzt und Patient an einem Strang, kann die Versorgung auch über Sektorengrenzen hinweg klappen.

Ziehen Arzt und Patient an einem Strang, kann die Versorgung auch über Sektorengrenzen hinweg klappen.

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LUDWIGSHAFEN. Kann eine sektorenübergreifende Versorgung durch IV-Verträge gesteuert werden? Diese Frage brennt vielen Praxis- und Netzchefs auf den Nägeln.

"Wer erfolgreich sein will, muss das System verstehen und sich in ihm bewegen können", sagte Helmut Hildebrandt, Vorstand der Optimedis AG und Geschäftsführer der "Gesundes Kinzigtal" GmbH bei den Gesundheitsökonomischen Gesprächen an der Fachhochschule Ludwigshafen.

Das Arbeiten in solchen Modellen setzt, so Hildebrandt, entsprechendes Wissen voraus - bei Patienten, Ärzten, Pflegenden und den Krankenkassen.

"Wir haben einen Mix von Kompetenzen"

Der Netzmanager verdeutlichte die Anforderungen an seinem konkreten Beispiel: So arbeiteten in der Geschäftsstelle im Kinzigtal Volks- und Betriebswirtschaftler, Pflegekräfte und Medizinische Fachangestellte (MFA).

"Wir haben einen Mix von Kompetenzen", so Hildebrandt. In das Vollversorgungsprojekt sind 84 Ärzte, 25 Vereine, 16 Apotheken, sechs Fitness-Studios, 14 Selbsthilfegruppen und 22 Kommunen eingebunden.

In "Gesundes Kinzigtal" sind momentan über 8.000 Versicherte von AOK Baden-Württemberg und LKK Baden-Württemberg eingeschrieben. Zum Arbeitskonzept in den Netz-Praxen gehört auch das "Shared Decision-Making" (SDM). Es bedeutet, dass Arzt und Patient, wenn es um Entscheidungen geht, die das Leben der Patienten stark beeinflussen, gemeinsame Therapieziele definieren und umsetzen. Das klappt nicht immer. "SDM heißt, seine eigene Haltung zu verändern", erläuterte Hildebrandt.

"Es braucht Selbstvertrauen, um über die Behandlung zu entscheiden."

Auch Patienten müssen dazulernen, findet die Psychologin Corinna Bergelt vom Uniklinikum Hamburg-Eppendorf: SDM klappe nur, wenn Patienten auch dazu bereit sind, eine Rolle im Entscheidungsprozess zu übernehmen. "Es braucht Selbstvertrauen, um über die Behandlung zu entscheiden."

Für Jürgen Graf, Fachbereichsleiter Integriertes Versorgungsmanagement der AOK Baden-Württemberg, eignen sich Steuerungsmodelle vor allem im Bereich der Prävention von Volkskrankheiten wie COPD, Asthma, Hypertonie, Diabetes, KHK und Herzinsuffizienz. Zur Königsdisziplin zählt er kooperative IV-Verträge.

Hausärzte seien erste Ansprechpartner, wenn es um Rabattverträge, Qualitätszirkel, Disease-Management-Programme oder Hausarztverträge gehe. Ohne Management-Kompetenz seien solche Modelle, so Graf, allerdings nicht zu stemmen.

80 AOK-Mitarbeiter, sogenannte Arzt-Partner-Ärzte, seien allein in Baden-Württemberg unterwegs, um Ärzte in ihren Praxen zu besuchen, zu beraten und um mit ihnen die Verträge zu besprechen.

Klinikeinweisungen sollen vermieden werden

Integrierte Versorgung braucht qualifizierte Mitarbeiter. Diese Erfahrung hat auch Paul Bomke, Geschäftsführer des Pfalzklinikums für Psychiatrie und Neurologie in Klingenmünster, mit dem IV-Projekt "Stattkrankenhaus" gemacht.

Ziel des sektorenübergreifenden Vertrages mit der AOK ist, Patienten mit psychotischen Störungen zu Hause zu behandeln und damit Klinikeinweisungen zu vermeiden und die Lebensqualität der Patienten zu steigern.

"Es geht um Patienten mit psychotischen Störungen, die besonders schwer zu behandeln sind", erklärte Bomke. Krisen-Interventions-Teams sorgten dafür, dass rund um die Uhr Ansprechpartner für die Patienten da sind. "Bei uns kommen die Behandler zu den Betroffenen und nicht umgekehrt."

Integration der Kranken ins normale Leben

Ziel sei die Integration der Kranken ins normale Leben. Geplant sei, ein Regionalbudget zur Versorgungssteuerung einzuführen. Vorbild ist das Klinikum Itzehoe. Dort gaben die Krankenkassen vor neun Jahren das Budget für die Behandlung an das Klinikum, das sich wiederum verpflichtete, die psychiatrische Versorgung zu gewährleisten.

Es entscheidet eigenständig, ob Patienten voll-, teilstationär oder ambulant behandelt werden. Das System ist erfolgreich: Die Zahl der Betten wurde um 18 Prozent verringert, die tagesklinischen Plätze um 87 Prozent erhöht.

Die Behandlungstage sanken um 21 Prozent (landesweit elf Prozent), die stationäre Verweildauer um 25 Prozent. Soweit ist das Pfalzklinikum noch nicht. "Wir sind am lernen und üben", stellte Bomke fest.

"Viele Verträge sind überreguliert - wir brauchen mehr Flexibilität.

Integrierte Versorgung setze nicht nur entsprechendes Wissen bei den Vertragspartnern im Klinikum und bei der AOK voraus - "es ist auch schwer für die Mitarbeiter". Sie müssten lernen, Druck auszuhalten und eigenständig im Team zu arbeiten. Zudem müssten sie eine hohe Fachkompetenz mitbringen.

Vor einem allzu strammen Korsett der Versorgungssteuerung, warnte Helmut Hildebrandt: "Viele Verträge sind überreguliert - wir brauchen mehr Flexibilität." IV-Verträge müssten sich entwickeln können. Es gebe ohnehin schon zu viel Druck im Gesundheitswesen.

Vor allem Verträge, die konkrete medizinische Abläufe festschrieben, seien im Praxisalltag nur schwer umsetzbar. Viel wichtiger sei, dass sich alle Beteiligten daran messen, ob die Ziele erreicht werden.

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