Notfallkoffer und Intimsphäre: Hausärzte machens besser

Allen Unkenrufen zum Trotz - Qualitätsmanagement in der Arztpraxis funktioniert. Dass es sich gleich an mehreren Stellen lohnt, zeigt jetzt erstmals eine systematische Untersuchung: Die beteiligten Hausärzte schaffen einen Qualitätssprung.

Helmut LaschetVon Helmut Laschet Veröffentlicht:
Teil der Infrastruktur in Arztpraxen: Notfallkoffer.

Teil der Infrastruktur in Arztpraxen: Notfallkoffer.

© Melanie Vollmert / fotolia.com

GÖTTINGEN. Die Teilnahme am Europäischen Praxis-Assessment (EPA) über einen Zeitraum von zwei Jahren verbessert die Versorgungsqualität in Allgemeinpraxen in einem Gesamt-Score von 75,2 auf 82,9 Prozent.

Das ist eine Steigerung von 7,4 Prozentpunkten oder einem Drittel der theoretisch überhaupt erreichbaren Steigerung.

Dies ist das Ergebnis einer Vergleichsstudie des Göttinger AQUA-Instituts und des Instituts für Allgemeinmedizin der Uni Heidelberg unter der Leitung von Professor Dr. Joachim Szecsenyi.

Vorteile für Praxen ohne QM-System

Die Forschungsarbeit ist jetzt im Canadian Medical Association Journal publiziert worden (CMAJ 2011; online 31. Oktober).

Vorteile für die Teilnehmer an EPA ergeben sich auch im Vergleich zu solchen Praxen, die noch kein Qualitäts-Management implementiert haben.

Diese Praxen kamen in der Studie auf einen Gesamt-Score von 77,7 Prozent und lagen damit um 4,9 Prozentpunkte unter jenen, die am EPA teilnahmen.

Praxisindividuelle Schwachstellen beseitigt

Erhebliche Unterschiede im Ausgangsniveau und dementsprechend auch in der Verbesserung der Qualität zeigen sich bei einer differenzierten Betrachtung der einzelnen Qualitätsdomänen:

Sie sind am größten bei der Praxisinfrastruktur - sie wurde in der Interventionsgruppe im Schnitt um 10 Prozentpunkte auf 84,9 Prozent verbessert - und bei der Qualität und Sicherheit - plus 10,1 Punkte auf 82,4 Prozent.

Aufgrund der sehr tief und konkret differenzierten Indikatoren gelingt es mit EPA nachweislich, praxisspezifische Schwachstellen zu erkennen und zu beseitigen.

Verbesserungen auch auf hohem Niveau

Beispiel Beschwerde-Management, für das es sechs Indikatoren gibt: Hier verbesserten die EPA-Praxen ihren Qualitäts-Score von 51,2 auf 80,7 Prozent. Die Vergleichsgruppe liegt bei 66,5 Prozent.

Beim Fehler-Management wurde immerhin eine Verbesserung von 79,1 auf 89,6 Prozent erreicht.

In anderen Dimensionen - Hygiene, Verletzungs- und Infektionsschutz sowie Aufspüren von Qualitäts- und Sicherheitsproblemen - waren die EPA-Praxen schon auf einem hohen Ausgangsniveau von rund 86 Prozent; die Verbesserungen fielen hier mit gut drei Prozentpunkten unterdurchschnittlich aus.

Weiteres Potenzial für Verbesserungen

Erheblich verbessert haben die EPA-Praxen ihre Infrastruktur. Besonders ausgeprägt ist dies bei der medizinischen Ausstattung (Notfallkoffer!): Der Score stieg um 16 Punkte auf 90,4 Prozent, die Vergleichsgruppe erreichte 77,8 Prozent.

Um elf auf 96,7 Prozent verbessert hat sich die IT-Sicherheit, die Vergleichsgruppe hatte hier schon mit 93,4 Prozent einen sehr hohen Score realisiert.

Um 11,8 Punkte auf 60,2 Prozent hat sich der Zugang für behinderte Patienten verbessert. Die Erschließung des verbleibenden Verbesserungspotenzials erfordert noch Zeit und Investitionen.

Sicherung der Intimsphäre verbessert

Ein deutliches Verbesserungspotenzial weist auch die Informationspolitik der Praxen auf: Um 11,1 Prozentpunkte konnte die Qualität der Information für Patienten über die Behandlung oder über medizinische Themen auf 85,6 Prozent gesteigert werden.

Die größte Verbesserung wurde bei der Prävention mit einem Zuwachs von 15,2 auf 83,4 Prozent erreicht. Geheimhaltung und Ungestörtheit - wichtige Voraussetzung dafür, dass die Intimsphäre der Patienten geschützt ist - konnten von 60,6 auf 66,4 Prozent verbessert werden. Die Vergleichsgruppe zeigt hier einen Wert von 56,3 Prozent.

Szecsenyi: Die Versorgung wird sicherer

Überraschend große Fortschritte gab es bei einigen Dimensionen der Domäne "Menschen".

Ausgeprägten Nachholbedarf hatten die EPA-Praxen bei der Dimension "Aus- und Weiterbildung" - hier wurde der Qualitäts-Score von 35,7 auf 68,7 Prozent verbessert - sowie beim Personal-Management, für den der Wert von 53,6 auf 67 Prozent stieg (Vergleichsgruppe: 51 Prozent).

Qualitäts-Management, dieses Resümee zieht Szecsenyi aus der Studie, ist geeignet, die Mitarbeiter- und Patientenzufriedenheit zu stabilisieren und zu verbessern, eine verlässlichere Versorgung zu organisieren, das Präventionsangebot auszubauen - und letztlich auch die Attraktivität von Arbeitsplätzen durch Professionalisierung und Wertschätzung zu steigern.

Szecsenyi: "Das ist ein Stück Zukunftssicherung."

Im Durchschnitt steigerten EPA-Praxen ihre Qualität um 7,4 Prozent

Vergleich nach Domänen und mit einer Vergleichsgruppe von Praxen ohne Qualitäts-Management
Domäne Anzahl der Indikatoren Interventionsgruppe
(n= 102)
Veränderungen
(T0 zu T1 in %)
95 % CI
Vergleichs-
gruppe (%)
(n = 102)
Interventions- vs. Vergleichsgruppe zu T1
Vergleichsgruppe in %
95 % CI
T0 (%) T1 (%)
Infrastruktur 38 74,9 84,9 10,0 (4,2; 15,8) 77,8 7,1 (2,1; 12,1)
Menschen 62 73,9 79,0 5,1 (0,8; 9,4) 75,7 3,3 (-0,2; 6,8)
Information 45 80,1 85,8 5,8 (1,2; 10,3) 81,1 4,7 (0,5; 8,8)
Finanzen 6 82,8 86,9 4,1 (0,2; 7,9) 79,1 7,8 (2,6; 13,0)
Qualität und Sicherheit 35 72,3 82,4 10,1 (4,2; 15,9) 73,9 8,5 (3,1; 13,9)
Gesamt 192 75,2 82,6 7,4 (2,3 - 12,4) 77,7 4,9 (0,7 - 9,1)
Quelle: AQUA-Institut Göttingen, Tabelle: Ärzte Zeitung

EPA ermöglicht Praxen eine individuelle Schwachstellen-Analyse

Fünf Domänen, differenzierte Dimensionen und 192 konkrete Items erschließen Verbesserungspotenziale
Domänen Dimensionen (Beispiele) Indikatoren / Items (Beispiele)
1. Infrastruktur 1.1 Erreichbarkeit / Zugang und
Verfügbarkeit
Für unvorhergesehene Ereignisse (z.B. Notfälle) sind im Terminplan Pufferzeiten vorgesehen
1.2 Medizinische Ausstattung inkl. Medikamente Es gibt ein Verfahren für die Kontrolle und das Auffüllen der in der Praxis verfügbaren Notfallmedikamente
2. Menschen 2.1 Personalmanagement Mitarbeiter haben eine Stellenbeschreibung
2.2 Perspektive der Patienten Die Patienten fühlen sich gut in Entscheidungen über
ihre medizinische Behandlung einbezogen
3. Informationen 3.1 Fachinformationen für
Mitarbeiter
Ärzte haben Zugang zu medizinischen Informations-
ressourcen
3.2 Prävention Patienten werden über die Möglichkeit informiert, für Früherkennungs- und Vorsorgeuntersuchungen durch die Praxis einbestellt zu werden
4. Finanzen 4.1 Finanzielle Leitung und
Verantwortung
Es ist festgelegt, wer Einlagen und Entnahmen aus der Barkasse der Praxis tätigen darf
4.2 Jährlicher Bericht Die Praxis erstellt einen jährlichen Bericht ihrer Einnahmen und Ausgaben
5. Qualität und Sicherheit 5.1 Qualitätsentwicklung,
Qualitätspolitik
Das gesamte Praxisteam führt regelmäßig Teambesprechungen durch, zu denen Protokolle erstellt und verfügbar gemacht werden
5.2 Beschwerdemanagement Die Praxis analysiert und diskutiert Kritik und Beschwerden von Patienten
Quelle: AQUA-Institut Göttingen, Tabelle: Ärzte Zeitung

Die Konstruktion der EPA-Studie

Die EPA-Studie ist eine Vorher-Nachher-Evaluationsstudie mit einer Interventions- und Vergleichsgruppe. Sie wurde aus Eigenmitteln des AQUA-Instituts Göttingen und der Abteilung Allgemeinmedizin und Versorgungsforschung des Universitätsklinikums Heidelberg finanziert. Die Daten stammen aus der Routineumsetzung von EPA. Den Praxen und Visitoren wurde nicht mitgeteilt, dass eine Studie durchgeführt wird, weil dies sonst das Ergebnis hätte verfälschen können.

Interventions- und Vergleichsgruppe waren mit je 102 Praxen gleich groß. In der Interventionsgruppe nahmen 174 Ärzte (Durchschnittsalter 50,6 Jahre), in der Vergleichsgruppe 167 Ärzte (50,5 Jahre alt) teil. In der Interventionsgruppe waren 49 Prozent Einzelpraxen, in der Vergleichsgruppe 52,9 Prozent. 57,8 (59,8) Prozent lagen in ländlichen Regionen. Die durchschnittliche Fallzahl (GKV und PKV) lag bei 1775 (1704) Patienten im Quartal. Die Zahl der nichtärztlichen Mitarbeiter betrug im Mittel 5,4 (5,6). Das Durchschnittsalter der Patienten lag bei 54,8 (54,2) Jahren. 56,8 (57,5) Prozent davon waren Frauen. Der Anteil der Patienten mit ernsthaften Erkrankungen, die länger als drei Monate dauerten, betrug im Mittel 46 (45,3) Prozent.

Was ist Visitool®?

Visitool® ist eine vom AQUA-Institut entwickelte Software, die den gesamten EPA-Prozess - Anmeldung, Versand der Fragebogeninstrumente, Visitation, Dateneingabe - in ein System integriert. Das ermöglicht beispielsweise ein Feedback am Tag der Visitation für die Teambesprechungen sowie den dauerhaften Zugriff auf die Datenbank mit jeweils aktuellen Benchmarks. Die Namen der Praxen sind grundsätzlich pseudonymisiert.

Die Feedback-Funktion von Visitool® war ursprünglich die Hauptmotivation zur Entwicklung des Programms. Ursächlich war der Wunsch, die Ergebnisse der Visitation noch am gleichen Tag analysieren zu können.

Was ist EPA?

Das Europäische Praxisassessment (EPA) ist ein umfassendes Qualitäts-Management-System, das alle Aspekte der Qualitäts-Management-Richtlinie des Gemeinsamen Bundesausschusses berücksichtigt.

Es bezieht die Perspektive von Patienten, Ärzten und Mitarbeitern ein. Anhand von Indikatoren können Praxen die Qualität ihrer Dienstleistung messen und dabei auch ihr Verbesserungspotenzial durch Benchmarking ermitteln.

Die Indikatoren bei EPA beruhen auf Qualitätsaspekten, die sich für eine gute Praxisführung als relevant erwiesen haben. Sie sind in einem internationalen Forschungsprozess entwickelt worden.

Die Qualitätsindikatoren beruhen auf fünf großen Themenbereichen:

  • Infrastruktur, zum Beispiel Erreichbarkeit, Zugang, Verfügbarkeit, medizinische Ausstattung;
  • Menschen, zum Beispiel Personalmanagement und Perspektive der Patienten;
  • Information, zum Beispiel Fachinformation für Mitarbeiter, Prävention;
  • Finanzen
  • Qualität und Sicherheit, zum Beispiel BeschwerdeManagement.

Den Domänen und Dimensionen sind insgesamt 413 konkrete Fragen (Items) zugeordnet, die durch Selbst-Assessment, Visitation, Patienten- und Mitarbeiterbefragung erhoben werden.

Die Ergebnisse können anonym mit anderen Praxen verglichen werden. Das ermöglicht es, effizient große Verbesserungspotenziale zu ermitteln.

EPA gibt es für Haus- und Kinderärzte sowie für Zahnärzte. Die Kosten für EPA liegen bei 2500 Euro in drei Jahren. 1400 Euro gibt die EU als Zuschuss.

Lesen Sie dazu auch den Kommentar: Nützlich für die Praxis

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