Keine Psychotherapie, sondern fatale Séancen in paramedizinischer Maskerade

Ein Berliner Arzt wollte bei seinen Patienten per "Psycholyse" mit Drogen-Cocktail frühe Traumata freilegen. Tatsächlich handelte er nach einem sträflich vereinfachten Konzept, das mit ärztlichem Ethos nichts zu tun hat.

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In diesem Haus im Berliner Stadtteil Hermsdorf sind durch eine Vergiftung zwei Männer ums Leben gekommen, einer lag am Montag noch im Koma.

In diesem Haus im Berliner Stadtteil Hermsdorf sind durch eine Vergiftung zwei Männer ums Leben gekommen, einer lag am Montag noch im Koma.

© Foto: dpa

Von Angela Speth

"Ich war fassungslos", sagt Professor Wolfgang Senf von der Uni Duisburg-Essen zum Fall des Berliner Arztes und bringt damit das vorherrschende Gefühl des Entsetzens, zumal unter Ärzten und Psychologen, auf den Punkt. Passiert ist die Vergiftung bei einer "Psycholyse" genannten Gruppensitzung offenbar mit Substanzen wie Amphetaminen, LSD, Ecstasy, Heroin oder Pilzen.

"Die Psycholyse ist eine mächtige Methode zur Ergründung des eigenen Bewusstseins", definiert eine Gemeinschaft namens WorldWide Magic Movement im Internet. Der Berliner Arzt und seine Frau gehörten zu den Referenten der einschlägig spezialisierten Schweizer Vereinigung Therapeutisch-Tantrisch-Spirituelle Universität, die etwa ein Seminar zum Thema "Heimat finden, Heimat schaffen, Heimat sein" plante.

Der Veranstalter hat seinen Sitz im schweizerischen Lüsslingen und führt dort eine "Gemeinschaft Kirschblüte" mit etwa 75 Erwachsenen und 60 Kindern. Der Tantrismus ist eine religiöse Strömung aus Indien, die Erlösung durch Rituale sucht.

"Psycholyse" hat nichts mit ärztlicher Kunst zu tun

"Das hat überhaupt nicht mit ärztlichem Handeln zu tun", konstatiert Senf, Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Psychosomatische Medizin und Ärztliche Psychotherapie. Die "Psycholyse" sei eine selbst kreierte Form der Scharlatanerie und von den Krankenkassen explizit nicht zugelassen. In Deutschland gibt es zwar rund 250 Psychotherapie-Verfahren, aber in der vertragsärztlichen Versorgung zugelassen sind nur drei: Verhaltenstherapie, tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie und Psychoanalyse. Ein Hinweis auf die Fragwürdigkeit des Hermsdorfer Arztes ist auch, dass er die Sitzungen am Wochenende veranstaltete, und vor allem: Er verabreichte offensichtlich Substanzen, die unter das Betäubungsmittelgesetz fallen. Zumindest teilweise konnte er sie nur illegal auf dem Schwarzmarkt besorgen.

Diese Drogen, die in Hippie-Zeiten als bewusstseinserweiternd Karriere machten, öffneten den Zugang zum verschütteten Wesenskern, schwärmt die Bewegung WorldWide Magic Movement. Und genau das bezweckt die "Psycholyse": Sie will einen regressiven Zustand herstellen und dadurch sonst unzugängliche problematische Erfahrungen freilegen: Misshandlungen, Vernachlässigungen oder Zurücksetzungen. Da solche Traumata als Auslöser von Störungen wie Ängsten, Depressionen, Beziehungsunfähigkeit oder Borderline-Syndrom gelten, soll die aufsteigende Einsicht Ausgangspunkt für Änderungen, gar Heilung sein.

Der Psychotherapie sei dieses Konzept durchaus nicht fremd, sagt Senf, aber sie sieht die Zusammenhänge wesentlich komplexer: "Fatal an der so genannten Psycholyse ist die sträfliche Vereinfachung."

Die Dunkelziffer dieser Wunderheiler ist groß

Wie häufig diese "mystisch-unbegründeten, pseudowissenschaftlichen Verfahren mit Wellness-Anteil" angewandt werden, lasse sich nur ahnen, aber nach den Anzeigen zu schließen, die in Zeitungen und Zeitschriften grassieren, tummelt sich hierzulande wohl eine ansehnliche Schar dieser selbst ernannten Heiler.

"Gute Therapeuten, die die nötige Fertigkeit haben, gibt es leider nur sehr wenige", bedauert WorldWide Magic Movement. Das liege an den recht hohen Anforderungen: "Ein mit Psycholyse arbeitender Therapeut sollte in Achtsamkeit und Feinfühligkeit unbedingt eine gewisse Meisterschaft errungen haben." Nach den jüngsten Vorkommnissen klingt das wie Hohn.

Wer sind die Patienten, die sich auf solche esoterisch-spirituellen Abenteuer einlassen? Allgemein wohl jene, die mit sich und ihrem Leben nicht zurechtkommen, vermutet Senf, nicht unbedingt nur labile Menschen, sondern auch manche, die sich überfordert fühlen, Menschen, die bisher keine Hilfe gefunden oder an die Grenzen der etablierten medizinischen Heilkunst gestoßen sind, die zu ungeduldig waren, um den Effekt einer anerkannten Therapie abzuwarten.

Außenseiter-Methoden wie die "Psycholyse" sieht Senf als Missbrauch von Hilfsbedürftigen: "Die Heiler machen ihnen Hoffnung und nutzen sie dann aus." Denn auch dabei entwickelt sich - wie bei der Psychotherapie, die nach dem Konzept von Übertragung und Gegenübertragung auf einer Arbeit an Beziehungen beruht - eine gewisse Abhängigkeit vom Therapeuten. Viele Patienten seien überfordert, das richtig einzuschätzen. Als Lehre könne man daraus nur ziehen, solche Methoden nie ungeprüft in Anspruch zu nehmen, sondern sich stets bei seriösen Einrichtungen wie Krankenkassen oder Berufsverbänden zu erkundigen - und Warnungen ernst zu nehmen.

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