Gastbeitrag

Vorsorge unterliegt der Eigenverantwortung

Sind Ärzte verpflichtet, Vorsorgemuffel an ihre versäumten Termine zu erinnern? Nein, meinte jüngst das Oberlandesgericht Koblenz. Das Urteil schafft endlich Klarheit - für Ärzte und Patienten, schreibt unser Gastautor.

Von Ingo Pflugmacher Veröffentlicht:
Ob ein normalverständiger Patient Vorsorgetermine wahrnimmt, ist nicht Sache des Arztes.

Ob ein normalverständiger Patient Vorsorgetermine wahrnimmt, ist nicht Sache des Arztes.

© Sandy Schulze / fotolia.com

Viele Ärzte sind unsicher, ob sie einen Patienten, der einen vereinbarten oder empfohlenen Termin für eine Kontroll- oder Vorsorgeuntersuchung nicht wahrnimmt, schriftlich oder telefonisch an den Termin erinnern müssen.

Ihnen ist bewusst, dass das Versäumen einer solchen Kontrolluntersuchung schwer wiegende Folgen haben kann. Viele Ärzte hält jedoch die Praxisorganisation und die nachvollziehbare Überlegung, den Patienten mit einer solchen Erinnerung eventuell zu belästigen, von einer solchen Erinnerung ab.

Nun hat das Oberlandesgericht (OLG) Koblenz diese Fragen in einer Weise entschieden, die Ärzten Sicherheit verschafft (Az.: 5 U 186/10). Im konkreten Fall ergab sich Ende 2002 bei einer 48-jährigen Frau ein klärungsbedürftiger Tastbefund der linken Brust. Nach der von der behandelnden Gynäkologin veranlassten Mammografie war ein entzündlicher Prozess wahrscheinlich, ein solider tumoröser Prozess aber nicht ausgeschlossen. Eine Punktion erbrachte kein Ergebnis. Die Gynäkologin empfahl der Patientin eine Wiedervorstellung innerhalb von vier bis sechs Wochen.

Das OLG wies die Klage im Revisionsprozess zurück

Die Patientin erschien nicht zu einer Wiedervorstellung, sondern erst wieder im April 2004. Dabei wurde ein Mammakarzinom diagnostiziert, die linke Brust musste amputiert werden. Die Patientin verklagte ihre Gynäkologin und warf ihr vor, sie hätte sie nicht nach Ablauf der vier bis sechs Wochen an die Vereinbarung der weiteren Vorsorgeuntersuchung erinnert.

Nachdem die Patientin in erster Instanz gewonnen hatte, wies das OLG die Klage vollständig zurück. Es könne kein Versäumnis der Ärztin darin gesehen werden, dass sie die Patientin nicht telefonisch oder schriftlich zur Wahrnehmung eines weiteren Untersuchungstermins aufgefordert habe.

Hinweis auf einen Zeitkorridor reicht aus

Wenn ein Arzt den Patienten auf die Notwendigkeit einer erneuten Vorsorgeuntersuchung hinweist und ihm dafür einen Zeitkorridor nennt, gibt es - so das OLG Koblenz - keine rechtliche Pflicht, den Patienten an die Terminwahrnehmung zu erinnern.

Nach den Untersuchungsergebnissen Ende 2002 war medizinisch allein die Beobachtung durch Nachkontrolle möglich und geboten. Mehr Informationen als den Hinweis auf eine notwendige Wiedervorstellung in vier bis sechs Wochen konnte die Patientin nicht erwarten.

Es überspanne die Anforderungen an den Arzt, ihm generell die Fürsorge zur Wahrnehmung von Vorsorgeuntersuchungen, sei es auch bei einer konkreten Indikation, aufzuerlegen, so das OLG. Dies könne nur dann in Betracht kommen, wenn mit hinreichender Wahrscheinlichkeit von einem bösartigen Befund ausgegangen werden müsse.

Es obliege der Entscheidung des Patienten, ob, wann und bei wem er weitere Vorsorgeuntersuchungen machen lässt. Vielleicht möchte er eine zweite Meinung einholen oder die weitere Untersuchung und Behandlung von einem anderen Arzt vornehmen lassen. Eine ärztliche Nachfrage könnte den Patienten in Erklärungsnot bringen, so die OLG-Richter.

Diese Entscheidung stellt eine praktikable Abwägung zwischen der Eigenverantwortlichkeit des Patienten und den Fürsorge- und Organisationspflichten des Arztes dar. Insbesondere die Feststellung, dass die Anforderungen an einen Arzt überspannt würden, wenn ihm generell die Terminkontrolle und Erinnerung auferlegt würde, ist zu begrüßen.

Für die tägliche Praxis muss allerdings berücksichtigt werden, dass es Ausnahmen gibt: Die Anforderungen an die Fürsorgepflicht des Arztes steigen, wenn der Patient erkanntermaßen über eine eingeschränkte Compliance verfügt.

Solche Erwägungen liegen mehreren Urteilen zugrunde, die eine besondere Fürsorgepflicht nach einer ambulanten Operation mit eventuell noch fortwirkender Sedierung betonen. Die bekannt fehlende Compliance dürfte in der Hausarzt-Praxis insbesondere bei psychiatrisch-neurologisch erkrankten Patienten eine Rolle spielen.

Es ist zudem zu beachten, dass Ärzte bei unklarem Befund die notwendigen weiteren diagnostischen Maßnahmen veranlassen müssen. In mehreren Urteilen wurde es in der Vergangenheit als fehlerhaft angesehen, wenn ein Arzt bei Verdacht auf Mammakarzinom zum Beispiel eine Biopsie nicht veranlasst oder eine Wiedervorstellung nur für den Fall verlangt, dass es zu keiner Befundbesserung komme.

In solchen Fällen hat der Arzt nicht alles in der Situationmedizinisch Notwendige veranlasst, oder er hat dem Patienten die Beurteilung des Gesundheitszustandes selbst überlassen. Dies ist fehlerhaft. Sind jedoch bis auf eine zeitnahe Wiedervorstellung keine Maßnahmen geboten und gibt der Arzt dem Patienten den Zeitkorridor für die erneute Vorsorgeuntersuchung konkret vor, so handelt er lege artis.

Freiwilliges Nachhaken bei Patienten bleibt erlaubt

Ärzten obliegen umfangreiche Pflichten zur medizinischen und wirtschaftlichen Aufklärung der Patienten. Innerhalb der Ärzteschaft wird deshalb zu Recht die Diskussion geführt, an welchem Punkt die Aufklärungspflicht aufgrund der Eigenverantwortlichkeit und Einsichtsfähigkeit des Patienten seine Grenze findet.

Die Entscheidung des OLG Koblenz zur Erinnerungspflicht bei versäumter Wiedervorstellung des Patienten schafft hier für einen in der täglichen Praxis wichtigen Bereich Klarheit: Ärzte müssen einem normalverständigen Patienten, bei dem sie zuvor alle diagnostischen Maßnahmen ohne konkreten Befund veranlasst haben, nicht "hinterher telefonieren" oder ihn an die erneute Vorsorgeuntersuchung erinnern. Sie können dies tun, verpflichtet sind sie aber nicht.

Zur Person: Dr. Ingo Pflugmacher ist Fachanwalt für Medizinrecht und Partner der Anwaltskanzlei Busse & Miessen in Bonn.

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