Göttinger Arzt vor Gericht

Prozess-Auftakt im Transplantationsskandal

Am Montag beginnt der erste Prozess im bundesweiten Transplantationsskandal. Angeklagt wird der ehemalige Chef-Transplanteur der Göttinger Uniklinik u.a. wegen versuchten Totschlags in elf Fällen. Die Ermittlungen ausgelöst hatte ein anonymer Hinweis.

Von Heidi Niemann Veröffentlicht:
Die Göttinger Transplantationsmedizin: Ausgangspunkt eines Medizin-Skandals, der jetzt juristisch Gegenstand eines ersten Strafrechtsprozesses ist.

Die Göttinger Transplantationsmedizin: Ausgangspunkt eines Medizin-Skandals, der jetzt juristisch Gegenstand eines ersten Strafrechtsprozesses ist.

© dpa

GÖTTINGEN. Am 2. Juli 2011 meldet sich ein Anrufer bei der Deutschen Stiftung Organtransplantation (DSO).

Da das Büro nicht besetzt ist, hinterlässt er eine Nachricht auf dem Anrufbeantworter: "Die Göttinger Klinik ist in kriminelle Machenschaften verstrickt. Oder kauft man Organe direkt bei Ihnen?" Dann legt der Anonymus auf.

Vertrauenskrise schadet Organspende

Die Manipulation bei der Beschaffung und Zuteilung von Organen hat eine tiefe Vertrauenskrise der Bürger in die Integrität der Transplantationsmedizin ausgelöst. Anders als andere Länder müssen Bürger in Deutschland aktiv ihre Organspendebereitschaft dokumentieren.

Die ohnehin viel zu niedrige Spendebereitschaft ist im vergangenen Jahr stark gesunken: Als Folge wurden 12,8 Prozent weniger Organe gewonnen.

Der Trend hat sich, wie aus den Statistiken der Deutschen Stiftung Organspende (DSO) in Frankfurt am Main hervorgeht, im ersten Halbjahr 2013 fortgesetzt: Im Vergleich zu 2012 sank die Zahl postmortaler Organspenden um 14,5 Prozent auf 1597.

Zu diesem Zeitpunkt kann er kaum ahnen, dass er eine Lawine los getreten hat, die das Vertrauen der Bürger in das deutsche Gesundheitswesen schwer erschüttern wird.

Zunächst geht es nur um Merkwürdigkeiten bei der Lebertransplantation eines russischen Patienten, am Ende wird daraus ein bundesweiter Medizinskandal.

Gut zwei Jahre nach dem folgenreichen Anruf beginnt jetzt der erste Prozess gegen einen Mediziner. Ab Montag, 19. August, muss sich der frühere Leiter der Transplantationschirurgie am Göttinger Universitätsklinikum vor dem Landgericht Göttingen verantworten.

Mammutprozess mit Vorreiterrolle

Es wird es ein Mammutprozess werden. Das Gericht hat zunächst 42 Verhandlungstage bis Anfang Mai 2014 angesetzt. Ob diese ausreichen werden, ist offen.

Bislang hat die Justiz trotz der Komplexität dieses Verfahrens und der zu bewältigenden Aktenmengen ein bemerkenswertes Tempo hingelegt.

Zum Prozessbeginn wird ein großes Medienaufgebot erwartet, insgesamt haben sich 30 Journalisten angemeldet. Das Gericht hat für den Prozess sechs Sachverständige geladen, außerdem will es zahlreiche sachverständige Zeugen vernehmen.

Dem Göttinger Verfahren kommt eine Vorreiterfunktion zu, denn inzwischen gibt es ähnliche Ermittlungsverfahren auch in München, Leipzig und Regensburg.

Auch dort stehen Mediziner im Verdacht, gegen Richtlinien verstoßen und durch unzulässige Tricksereien die Transplantationszahlen an ihren Kliniken nach oben getrieben zu haben.

Die dortigen Staatsanwaltschaften werden mit großem Interesse verfolgen, welchen Verlauf der Prozess in Göttingen nehmen wird und wie das Gericht am Ende den Fall juristisch bewertet.

Vorwurf: Versuchter Totschlag

Die Anklage hat die Staatsanwaltschaft Braunschweig verfasst. Diese hatte den Fall übernommen, weil sie als zentrale Ermittlungsstelle für Korruptionsverfahren fungiert und zunächst der Verdacht bestand, dass der Göttinger Arzt von einem russischen Patienten Bestechungsgeld für eine neue Leber kassiert hatte.

Dieser Verdacht bestätigt sich zwar nicht, doch beim Durchforsten der Akten der Göttinger Transplantationsmedizin stieß die 13-köpfige Sonderkommission "Leber" auf zahlreiche weitere Verdachtsfälle.

Anfang des Jahres hatte die Staatsanwaltschaft dann Hinweise darauf, dass sich der Chirurg, der palästinensischer Abstammung ist, ins Ausland absetzen wollte. Daraufhin ließ sie ihn in Untersuchungshaft nehmen.

Die Anklage gegen ihn ist 156 Seiten lang. Die Staatsanwaltschaft Göttingen wirft dem 46-Jährigen versuchten Totschlag in elf Fällen und vorsätzliche Körperverletzung mit Todesfolge in drei Fällen vor. Bei einer Verurteilung drohen ihm mindestens drei Jahre Haft sowie ein Berufsverbot.

Der Chirurg soll während seiner Tätigkeit am Göttinger Uni-Klinikum von 2008 bis 2011 durch die Meldung falscher Laborwerte an die Stiftung Eurotransplant Patienten als kränker dargestellt haben, als sie tatsächlich waren, damit sie schneller eine Spenderleber zugeteilt bekamen.

Dadurch seien andere lebensbedrohlich erkrankte Patienten, die ein Organ dringender benötigt hätten, verstorben. Außerdem soll er drei Patienten eine Leber eingepflanzt haben, obwohl die Transplantation nicht erforderlich gewesen sei. Diese seien in Folge der Transplantation gestorben. Die Witwe eines verstorbenen Patienten nimmt als Nebenklägerin an dem Prozess teil.

Die Göttinger Universitätsmedizin hatte den Arzt nach Bekanntwerden der ersten Vorwürfe sofort vom Dienst freigestellt, Ende 2011 wurde das Arbeitsverhältnis aufgehoben.

Im Juli 2012 suspendierte sie außerdem den Leiter der Gastroenterologie und Endokrinologie, weil in seiner Abteilung Laborwerte von Transplantationspatienten manipuliert worden sein sollen. Gleichzeitig leistete die Klinik aktive Aufklärungsarbeit.

Konsequenzen an der Uniklinik

Unter anderem beauftragte sie drei externe Gutachter, die klären sollen, wie es zu den Manipulationen kommen konnte, um strukturelle Schwachstellen ausfindig zu machen. Außerdem wurden die Leitung der Transplantationschirurgie neu besetzt und Vorkehrungen getroffen, die Manipulationen verhindern sollen.

So wurde das Vier-Augen-Prinzip eingeführt. Ein zweiter Arzt, der nicht in der Transplantationsmedizin tätig ist, muss die medizinischen Daten jedes potentiellen Organempfängers auf ihre Plausibilität überprüfen. Erst dann wird der Patient der Stiftung Eurotransplant gemeldet.

Einen finanziellen Anreiz, die Transplantationszahlen durch Tricks in die Höhe zu treiben, gibt es auch nicht mehr. Der angeklagte Chirurg hatte bei seinem Wechsel an das Göttinger Klinikum noch einen Arbeitsvertrag abgeschlossen, der Bonuszahlungen von jeweils 1500 Euro für die 21. bis 60. Transplantation vorsah.

Unter seiner Regie stieg die Zahl der Transplantationen in Göttingen dann auch deutlich an. 2009 waren es 55 Transplantationen, 2010 dann 58.

Inzwischen sind die Transplantationszahlen deutlich niedriger, in diesem Jahr wurden am Göttinger Klinikum bislang elf Lebern und vier Herzen transplantiert.

Hier zeigt sich eine der gravierendsten Folgen des Medizinskandals: Die Bereitschaft der Bürger zur Organspende ist deutlich zurückgegangen, so dass weniger Patienten durch ein Ersatzorgan gerettet werden können.

Vorgeschichte in Regensburg

Vor seinem Wechsel nach Göttingen war der Transplantationschirurg von 2003 bis 2008 als Oberarzt an der Uni-Klinik Regensburg tätig gewesen. Bereits dort soll er die Daten von Patienten manipuliert haben, um ihnen bevorzugt zu einer Spenderleber zu verhelfen.

Bislang ist die Staatsanwaltschaft auf 43 Verdachtsfälle gestoßen. Ansonsten hat der Fall in Regensburg jedoch keine größeren Konsequenzen nach sich gezogen.

Zwar wurde der Direktor der Chirurgie, der Chef und Mentor des Oberarztes gewesen war, 2012 zeitweilig beurlaubt. Inzwischen ist er jedoch wieder in Amt und Würden.

Beide Mediziner haben gemeinsam zahlreiche wissenschaftliche Publikationen veröffentlicht und ein Transplantationsprogramm an einer Klinik in Jordanien aufgebaut, das die Bundesärztekammer als ethisch fragwürdig kritisiert hat.

Der Regensburger Chirurgiechef war zudem der Doktorvater sowohl des Göttinger Chirurgen als auch von dessen Ehefrau. Die Dissertation der Zahnmedizinerin befasste sich, wie zuvor auch die Doktorarbeit ihres Mannes, mit Behandlungsstrategien beim Leberkrebs.

Weil beide Arbeiten frappierende Ähnlichkeiten aufweisen, hat die Medizinische Fakultät der Uni Regensburg der Ehefrau kürzlich den Doktortitel aberkannt.

Systemfehler der Transplantation

Drei Punkte kritisiert der Präsident der Deutschen Gesellschaft für Chirurgie Professor Karl-Walter Jauch als Schwachstellen der Transplantationsmedizin:

Konkurrenzdruck unter Transplantationszentren: Er führe zu einem Verteilungskampf um Organe. Dadurch würden auch Patienten auf die Warteliste gesetzt, die mit einer neuen Leber schlechte Überlebenszeiten hätten. Jauch fordert, die Zahl von 47 Transplantationszentren in Deutschland auf sechs übergeordnete Zentren mit einem Netzwerk assoziierter Organzentren zu reduzieren.

Organverteilung nach dem MELD-Score: In Deutschland sei daraus allerdings ein Sickest-first-Prinzip gemacht worden. Patienten mit einem hohen MELD-Score (Model for End-stage Liver Disease) würden bevorzugt, obwohl die Überlebenschancen dieser schwer kranken Menschen am geringsten sind. Das sei ein Fehler, der dazu führe, dass in Deutschland nur 75 Prozent der Patienten noch ein Jahr nach der Transplantation leben, in den USA, Kanada und Großbritannien jedoch über 90 Prozent. Bei der Organvergabe müssten auch Erfolgsaussichten berücksichtigt werden.

Mangelnde Professionalität: Das Fachgebiet sei nur ein Zwischenschritt in der beruflichen Laufbahn und diene als „temporärer Karrierebeschleuniger auf dem Weg zum Professor oder Chefarzt“, kritisiert Jauch. Darunter litten „professionelle Werte wie Redlichkeit, Verlässlichkeit, Transparenz und Menschenfreundlichkeit“. Jauch schlägt ein dreijähriges Ausbildungskonzept vor, um die Qualität zu sichern.

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